Sonntag, 30. Dezember 2012

Jul

n.b., dieser Eintrag stammt von Dezember 2012, wurde aber in wesentlichen Punkten umgestaltet bis und mit Februar 2013

Was ist Jul?

Die kurze Antwort lautet: "Jul" ist ein norddeutsches Wort für Weihnachten. (Grimm: im östlichen Norddeutschland das weihnachtsfest, nach dem schwed. dän. jul; mit dem verbum julen, das weihnachtsfest begehen, schwed. jula)

Aber natürlich beantwortet dies nicht den gemeinten Sinn der Frage. Gemeint ist, was ist Jul "bei den Germanen", oder "im Heidentum". Zweite Antwort: "Júl oder jól war ein Winterfest bei den heidnischen Skandinaviern im 9. und 10. Jahrhundert." Auch diese Antwort ist richtig, aber nicht befriedigend. Wir wollen wissen, was war Jul "wirklich" oder "ursprünglich". Was war es vor dem 9. Jh.? Woher kommt der Name überhaupt, und was war seine ursprüngliche Bedeutung?

Zusammenfassend: Darüber wurde schon viel und lange nachgedacht. Die Meinungen sind geteilt. Manche glauben, der Name sei ein christlich-griechisch-römischen Kulturwort. Andere gehen gar von Ursprung in  "nichtgermanischem" Substrat aus. Hier komme ich nach langem Hin und Her zur eigenen Ansicht, es könne sich trotz allem um ein Erbwort handeln, und die ursprüngliche Bedeutung sei sehr weitgefasst, bezeichnete eine Jahreszeit (oder einen Jahres-Sechstel), in der vor allem gefeiert und gegessen wurde (schon, weil mitten im Winter weder Landwirtschaft noch Krieg in Frage kam). Diese Meinung, zu der ich mich mit Mühe durchringen konnte, wurde natürlich schon früher vertreten,  von Alexander Tille  (Yule and Christmas: their place in the Germanic year, 1899)

Deutsch würde das Fest wohl Jehl heissen, die zugehörige Jahreszeit vielleicht Jul (Mehrzahl Jüle).

wikingerzeitliches Julfest

Tatsächlich sieht es so aus, als hätten die Skandinavier das Julfest in der belegten Form erst im 9. Jh. eingeführt, gewissermassen als heidnische Antwort auf Weihnachten. Auch vorher gab es selbstverständlich Mittwinter-Bräuche und -Opfer, aber die scheinen nicht unter dem Namen júl / jól bekannt gewesen zu sein. Ja, sogar das Wort deutet darauf hin, dass es nicht aus dem Urnordischen stammt sondern eben um das 9. oder 10. Jh. übernommen wurde.

Die Grundbedeutung von altnordisch jól scheint am ehesten "Festmahl, Trinkgelage" zu sein. Ein früher Beleg dafür, dass jól nicht einfach "Festmahl" hiess, sondern ein kalendarisches Fest um Mittwinter war, findet sich in Haraldskvædi (um 900, die Szene ist um 870):
Úti vill jól drekka, ef skal einn ráða, fylkir enn framlyndi, ok Freys leik heyja
E
r (König Harald) will das Jul draussen (auf dem Meer) trinken ... und das Spiel Freyrs beginnen.
In der Ynglinga-saga fehlt der Begriff dagegen ganz: jene Stelle (cap. 8), wo die drei grossen kalendarischen Opfer eingeführt werden, bezeichnet das Mittwinter-Opfer einfach mit  at miðjum vetri "in der Mitte des Winters".
Þá skyldi blóta í móti vetri til árs, en at miðjum vetri blóta til gróðrar, hit þriðja at sumri, þat var sigrblót.
Zu Winter-Beginn soll ein Opfer sein für ein gutes Jahr, zu Mitte des Winters ein Opfer für das Korn, das dritte im Sommer, d.i. das Sieg-Opfer.
Die Gleichsetzung von jól mit miðsvetrar nótt und die Angabe, das Fest habe drei Nächte gedauert, und Hákon habe mit jól Weihnachten gleichgesetzt, findet man in Saga Hákonar góða 15:
Hann setti þat í lögum at hefja jólahald þann tíma sem kristnir menn, ok skyldi þá hverr maðr eiga mælis öl, en gjalda fé ella, en halda heilagt meðan jólin ynnist. En áðr var jólahald hafit hökunótt, þat var miðsvetrar nótt, ok haldin þriggja nátta jól.
Er (Hákon) machte das Gesetz, dass das Julfest gleichzeitig mit den Christen gehalten werde, und dass jeder Mann, unter Androhung von Geldstrafe, gehalten war, Malzbier zu brauen, um Jul zu heiligen. Vorher war das Julfest um Hökunott, das ist die Mittwinter-Nacht, gehalten worden und sie hielten Jol (Festmahl) während drei Nächten.
Hákon war Christ, regierte aber über ein noch heidnisches Norwegen. Dies scheint ohne grössere Probleme möglich gewesen zu sein, seine Religion wurde höflich ignoriert und er selbst unternahm auch keine Versuche, heidnische Bräuche zu unterdrücken. Die Verschiebung des Julfestes auf den Weihnachtstermin war augenscheinlich ohne gösseren Widerstand möglich; nach unserer Vermutung war das Julfest selbst damals ja noch kaum hundert Jahre alt und wohl aufgrund der Kalenderprobleme mit der etwa gleich alten Sieben-Tage-Woche herrschte wahrscheinlich sowieso schon einige Unsicherheit über den genauen Termin.
Dass Hákon, als Christ, verlangt, um Jul (also nach seinem Gesetz, Weihnachten) zu heiligen, müsse Bier gebraut werden, ist ja auch erfrischend unchristlich und zeigt, dass er mit seinen heidnischen Untertanen wohl umzugehen wusste.

Im heidnischen Skandinavien des 9. und 10. Jh. wurde bereits eine abgewandelte Version des römischen Kalenders verwendet, im Gegensatz zu den heidnischen Angelsachsen offenbar abgekoppelt von den eigentlichen Mondphasen. Nach der Christianisierung wurde dann versucht, diesen Kalender mit dem julianischen in Übereinstimmung zu bringen, daraus entstanden bis ins 13. Jh. die "Runenkalender", die den 19-jährigen Meton-Zyklus berücksichtigen. Alle Monate hatten 30 Tage, mit 4 zusätzlichen Tagen im Sommer. Das Jahr hat damit 364 Tage, oder genau 52 Wochen. 
Dieser Kalender wird sich innerhalb von nur 25 Jahren um einen ganzen Monat relativ zum Sonnenjahr verschieben. Und genau das tat er auch:  Im mittleren 10. Jh., hätten die "weisesten Männer im Land" (spökustu menn á landi)  gemerkt, dass "der Sommer zurückwich gegen den Frühling" (þá merkðu þeir at sólargangi, at sumar munaði aftr til vársins), aber sie waren nicht in der Lage zu sagen, was der Grund dafür war, nämlich dass "die zwei Halbjahre um einen Tag über die volle Woche hinausgingen" (d.h., dass das Jahr 365 Tage hat), eine Entdeckung, die laut Íslendingabók (cap. 4) Thorsteinn Surtr selbständig machte (er fann sumarauka). Da sich die Jahreszeiten im 52-Wochen-Jahr um mehr als einen Tag pro Jahr verschieben, kann der Kalender noch nicht sehr lange in Gebrauch gewesen sein, wenn um 950 die "weisesten Männer" die Verschiebung zu bemerken begannen: Allenfalls wäre das 364-Tage-Jahr in Island um 900 eingeführt worden (etwa eine Generation nach der Besiedlung). Dies stimmt gut überein mit der Evidenz der Wochentagnamen: bekanntlich hatten die südlichen Germanen die römische Benennung der Wochentage etwa im 3. oder 4. Jh. übernommen. Die Römer selbst hatten die Sieben-Tage-Woche im 1. Jh. eingeführt, und die Benennung der Wochentage nach den Planeten ist  im späten 2. Jh. nachweisbar. Der Dies Veneris wurde in der interpretatio germanica zum Tag der Frijjo, als frîatac, frīgedæg. Im Altnordischen wurde dieser Wochentag nun als frjádagr übernommen, und nicht etwa als fríggjadagr. Das beweist, dass die Woche bis in urnordische Zeit noch nicht zu den Nordgermanen verbreitet wurde, und dass die Übernahme der althochdeutschen bzw. altenglischen Wochentagnamen in der Wikingerzeit stattfand. Zusammen mit der Geschichte von Thorsteinn und der Schaltwoche würde ich also vermuten, dass die Woche und die Idee des 52-Wochen-Jahres bei den Nordgermanen im Lauf des 9. Jh. eingeführt wurde. Dies ist der "heidnische" Kalender des 10. Jh., auf den die Edda zurückblickt und der dann im 11. Jh. schliesslich mit dem "christlichen", nämlich julianischen, Kalender in Einklang gebracht wurde.

Wortherkunft


Belege für das Wort gibt es gotische, angelsächsische, skandinavische und finnische.
  • Der gotische Beleg stammt aus dem gotischen Kalenderfragment, dessen Ursprung man wohl auf das 4. Jh. datieren darf, also höchstens Jahrzehnte nach der Christianisierung der Goten (vgl. Köbler). Von hier stammt der einzige gotische Monatsname, der uns überhaupt überliefert ist, fruma jiuleis = "November". 
  • Der nächste Hinweis ist um die 300 Jahre jünger und stammt von Beda: wieder geht es um die Namen der Wintermonate. Altenglisch giuli sei der Name sowohl für "Dezember" als auch für "Januar" schreibt Beda in De Temporum Ratione xv. Dass zwei Monate sich denselben Namen teilen ist eine Besonderheit des angelsächsischen Kalenders: unterschieden wird "der vorherige" und "der nachherige" und zwar sowohl um Mittwinter: se ǽrra geóla "Dezember" und se æftera geóla "Januar" als auch um Mittsommer:  se ǽrra lýða = Juni", se æftera lýða = "Juli" (Hinweis: das g im altenglischen Wort ist nur graphisch. Orthographisches geóla entspricht phonologischem jeóla). Bereits in altenglischer Zeit hiess aber geóhol einfach "Weihnachten", und  Ðý twelftan dæge ofer geóhol bezeichnete "the twelfth day after Christmas", also Epiphanias, den 6. Januar.
  • Noch einmal um die 200 Jahre später treffen wir jól als altnordisches Mittwinterfest. Das altnordische Wort lässt sich am besten verstehen, wenn man es einfach als "Festmahl, Trinkgelage" übersetzt.
    Details zu den Belegen und der Bedeutung im Altnordischen: Die allgemeine Bedeutung von "Festmahl" etwa in der Kenning „Hugins jól“ = „Trinkgelage des Raben“. Die Ableitung jóln erhält die Bedeutung "die Götter" (also etwa "die Teilnehmer  am Festgelage, die Tafelnden") und Jólnir (also der "Herr des Festgelages oder Herr der Teilnehmer am Festgelage"?) wird ein Name Odins (Þórsdrápa 12:5-8). Skáldskaparmál 241, zugeschrieben dem Eyvindr skáldaspillir, hat  Jólna sumbl, also etwa "das Festgelage (der Götter?)", "das Julfest"(?)
    In einer komputistischen Abhandlung aus dem 13. Jahrhundert findet man noch ýlir, eine Ableitung von jól, für den zweiten Wintermonat. In jener Zeit bezeichnete ýlir die Zeit vom 14. November bis 12. Dezember
  • das Finnische entlehnte das Wort zweimal, einmal als juhla und später als joulu. Die ältere Form hat finnisch die allgemeine Bedeutung "Fest", also kompatibel mit der altnordischen Bedeutung, während joulu einfach das finnische Wort für Weihnachten ist, und also in christlicher Zeit (im späteren Mittelalter) übernommen sein worden muss. Von grosser Wichtigkeit ist das h im älteren Wort: dieser Laut war im altnordischen Wort nämlich  spätestens bei der Verschriftlichung im 13. Jh. nicht mehr sichtbar.
Jan de Vries, Altnordisches Etymo-
logisches Wörterbuch
, 1962 (1958)

Als "urgermanische" Form des Wortes wird gerne (nach Bugge 1888) ein jehwlan. Aus dieser Rekonstruktion lassen sich wohl die belegten Formen herleiten, es müssen dazu allerdings alle Register der Lautlehre gezogen werden. Genauer: man muss grammatischen Wechsel annehmen, und Suffixvarianten, so dass die belegten Formen sich herleiten täten aus den urgermanischen Vorformen:
jehwla- / jegwla- / jehwlija- / jegwlija-
Der Labiovelar übernimmt hier die Rolle einer Art von phonologischem "Schweizer Armeetaschenmesser" und soll erklären, wieso das Wort manchmal h und manchmal u hat. Eine etymologische Motivation für den Labiovelar gibt es nicht. 
Das j im Anlaut sollte im Altnordischen schwinden, also *e(h)wl(ij)a-, und aus der Variante *ewl- kommt dann sekundär wieder ein j dazu, jeul-  > júl.

Bjorvand, Lindeman, Våre arveord: Etymologisk ordbok, Oslo, 2007,  548-551. Kylstra,  Hahmo,  Hofstra,  Nikkilä  (eds.),  Lexikon der älteren germanischen Lehnwörter in den ostseefinnischen SprachenAmsterdam, 1991-2012 (I-III) Bd. I, 142f.


Dies ist eine kunstvolle, fast schon schmerzhaft technische Erklärung. Wir hätten es zu tun mit dem "Eber"-Gesetz (ebur=eofor=jöfurr), das altnordische Wörter mit j beginnen lässt, das hier für einmal ein gerade eben getilgtes j sofort wieder restituiert. Es ist mir kein anderes Wort bekannt, wo das eingetreten wäre. Überhaupt sind altnordische Wörter in jó- selten, und grossmehrheitlich Lehnwörter (mit der vereinzelten Ausnahme von jór, dem alten Wort für "Pferd", ehwaz  ).

Ich möchte deshalb eine Alternative in Betracht ziehen: Das altnordische Wort jól wäre ein Lehnwort, und zwar übernommen vom Namen des Weihnachtsfestes bei den christlichen Angelsachsen,  geól, geóhol. Dieses wurde in einer interpretatio pagana von den Skandinaviern übernommen, zusammen mit der 7-Tage-Woche und anderen kalendarischen Vorstellungen. Damit wäre die Frage zwar nicht geklärt, wie Weihnachten dazu kommt, von den Angelsachsen geó(ho)l genannt zu werden, aber das altnordische Wort käme nicht mehr als unabhängige Evidenz in betracht.

Die Frage muss nun sein, ist auch das angelsächsische Wort letztlich aus dem Gotischen entlehnt, oder können wir eine unabhängige Herkunft des angelsächsischen und des gotischen Wortes aus einem germanischen jehwlan retten? Frappant ist die inhaltliche Übereinstimmung des gotischen fruma jiulies und dem aengl. ǽrra geóla. Dies ist zweimal derselbe Name, nämlich "der erste (von zwei Monaten mit dem Namen) Jul". Einmal ist dies der November, das andere Mal der Dezember des julianischen Kalenders, was kein Problem darstellen muss, wenn man annimmt der "germanische Jul" habe etwa von Mitte November bis Mitte Januar gedauert. Der "erste Jul" von Mitte November bis Mitte Dezember konnte dann mit beiden dieser julianischen Monate zur Deckung gebracht werden, und wenn die Goten die eine, die Angelsachsen die andere Möglichkeit wählten, wäre das Evidenz dafür, dass dies unabhängig voneinander geschah.
Meine Kernüberlegung ist hier also: Die Parallelität zwischen se ǽrra geól und  fruma jiulies deutet auf gemeinsamen Ursprung, aber die Anwendung einmal auf "Dezember" und das andere Mal auf "November" spricht gegen Entlehnung und damit für gemeinsames (gemeingermanisches) Erbe.
Es ist Tilles Ansicht, dass hier tatsächlich urgermanische Verhältnisse ihre Spuren hinterliessen, und dass der "germanische Jul" einer der sechs Doppel-Monde war, die das frühe germanische Jahr einteilten.

Vor diesem Hintergrund ist nun die Meinung von David Landau, The Source of the Gothic Month Name jiuleis and its CognatesThe Jubilees Calendar in Practice (2010) zu sehen. Nach Landaus Ansicht geht das Wort  auf griech. ἰωβηλαῖος (und damit letztlich biblisch יוֹבֵל yōbēl, also "Jubeljahr") zurück. Die Goten hätten einfach die griech. Aussprache zu /julis/ vereinfacht. Das biblische "Jubeljahr" war die alle 50 Jahre wiederkehrende Schuldentilgung. Dieses Konzept wurde als "Erlösung von den Schulden" auf die Erlösung durch den Christus übertragen, und die Erscheinung des Christus auf der Erde wäre damit als ein weltgeschichtliches "Jubeljahr" verstanden worden. Die Hypothese ist, dass deshalb das Lehnwort jiuleis im Gotischen zu einem Namen für den Christus, oder für den Zeitpunkt seiner Erscheinung, wurde. Das ist eine schöne Erklärung, aber sie hat zwei schwerwiegende Schwachstellen: Erstens, wieso erscheint dann dieser heilige Name bei den frisch bekehrten Goten ganz profan als Name des Monats November? Und zweitens, was ist mit dem inlautenden /h/ in geóhol? Das letztere Problem wird von Landau thematisiert: Sein Vorschlag ist, dass dieses h ursprünglich rein orthographisch war, ein "sakrales H" für heilige Namen, so wie für Iesu manchmal Ihesu geschrieben wurde. Diese Erklärung ist zu abenteuerlich, um akzeptabel zu sein. Dieses "sakrale H" existierte wohl, aber ich kenne keinen einzigen Fall, wo es sprachwirklich geworden wäre (wir reden hier nicht über das biblische Hebräisch selbst, wo natürlich Abraham aus Abram gebildet wurde, sondern über eine mögliche Imitation dieses Vorbilds in der christlichen Spähre). Niemand kam je auf die Idee, plötzlich von "Jehesus" zu reden ("folk literalism", R. Smith, The H. of Jesus H. Christ, 1994) Aber noch entscheidender gegen diese Annahme spricht, dass das gotische Wort jiuleis eben nicht mit h geschrieben wird, und es wäre ja die gotische "sakrale Orthographie" gewesen, die dieses Wort rein schriftlich in das frühe westgermansiche Christentum transportiert hätte, wo es dann fälschlich /juhlis/ ausgesprochen worden, und wegen seiner ungewohnten Lautgestalt letztlich zu angelsächsich /jeohla/ geworden wäre. So verlockend Landaus Erklärung auf den ersten Blick scheint, ich fürchte wir müssen sie als allzu gesucht zurückweisen. Landaus Verweise auf unetymologische h in mittelenglischer Orthographie schliesslich gehen am Thema völlig vorbei, geohol, manchmal gar geohhol, ist altenglische Orthographie.

juhliz "Mittwinter"

Nachdem sich die ernsthafte Erwägung einer Entlehnung als ergebnislos erwiesen hat, müssen wir also vielleicht doch wieder von einem Erbwort ausgehen? Hier kommt das altnordische ýlir zum Zug: Got. jiuleis, aengl. giuli und an. ýlir entsprechen sich lautlich und haben alle eine rein kalendarische Bedeutung, "Zeitabschnitt im Winter", entweder "November und Dezember" (got.), "Dezember und Januar" (aengl.) oder "Mitte November bis Mitte Dezember" (an.). Dass ýlir ein Erbwort ist, kann man nicht beweisen, da die Ableitung von ý aus grammatikalisiert ist und jederzeit zwischen der Entlehnung von jól (9. Jh.) und dem Beleg von ýlir (13. Jh.) möglich gewesen wäre. Was ýlir aber nicht sein kann, ist eine direkte Entlehnung aus aengl. giuli. Die dreifache Übereinstimmung gotisch-altenglisch-altnordisch sowohl lautlich als auch in der Bedeutung "Kalenderabschnitt im Winter" erlaubt mmn. die Rekonstruktion eines gemeingermanischen Begriffs ju(h)liz. Dafür spricht das fast unglaubliche Überleben des h, das im Altnordischen keine Spur hinterlassen konnte, im finnischen juhla) "Teil des Winterhalbjahrs", ev. "mittleres Drittel des Winterhalbjahrs", also etwa die 60 Tage um Mittwinter.

Nehmen wir also an, im frühen, gemeingermanischen Kalender (um das 1.-3. Jh.) sei das Jahr in sechs Teile zu etwa 60 Tagen (nämlich zwei Monden) gegliedert gewesen. Es muss dies ein "primitiver" Kalender gewesen sein, ohne fixe Schaltregeln oder auch nur Tageszählung, es wurden einfach die Monde nach Gutdünken mit dem Jahreslauf in Einklang gebracht (nach altenglischer Evidenz (Þrilíða) wurde vielleicht ein zusätzlicher Mond um Mittsommer gezählt wann immer es nötig schien).
Diese Sechsteilung erlaubt nun sowohl eine Betrachtung von zwei Jahreshälften zu je drei Jahressechsteln als auch eine von drei Jahresdritteln zu je zwei Jahressechsteln (Grotefend 1891 dreidinge, echtendinge). Beide Konzeptionen von "Jahreszeiten" sind für die frühen Germanen belegt. Dagegen ist die Sechsteilung nicht kompatibel in eine Vierteilung nach römisch-griechischem Vorbild: Tacitus (cap. 26) berichtet, die Germanen hätten wohl Namen für Winter, Frühlung und Sommer, nicht aber für Herbst.
hiems et ver et aestas intellectum ac vocabula habent, autumni perinde nomen ac bona ignorantur.
Das mittlere Drittel des Winters hätte also juh(w)liz geheissen (und der Name des mittleren Drittel des Sommers setzt sich vermutlich in líða fort). Dieses Wort hiesse also "Mittwinter" nur insofern,  als wir mit diesem Wort nicht etwa die Sonnwende, aber auch nicht ein Fest oder Opfer von mehreren (drei oder zwölf) Tagen um die Mitte des Winters, sondern eine eigentliche "Jahreszeit" (ein Jahressechstel) meinen, nämlich der Doppelmond (die zwei Monate) während der dunkelsten Zeit des Jahres.

Nun ist aber natürlich die dunkle Jahreszeit die Zeit der grossen Feste. Und im altenglischen geóhol  und nur da, scheint sich eine Ableitung vom Namen der Jahreszeit als Name für das grosse Fest um die Wintermitte erhalten zu haben, selbstverständlich übertragen auf die christliche (oder vielmehr: römische) Ausprägung dieses Festes.

Zur Illustration nehmen wir doch ein Jahr aus dem mittleren 3. Jh. (Daten: NASA), sagen wir das Jahr 250/1 beginnend mit dem Winteranfang 250 (d.i. September 1003 AUC, r. Decius; in diesem Jahr stossen die Alemannen bis an die Donau vor): 
Neumonddaten 13.9.13.10.11.11.10.12.9. 1.8. 2.9. 3.8. 4.8. 5.6. 6.6. 7.4. 8.3. 9.
Doppelmonde1             2  juhl-       3            4 (austr-)5  lenþ-          6            
Jahresdrittelwentruz                        (lengitin)                sumaraz                         
Jahreshälften                  wentruz                                           sumaraz                      

Die Zählung der Monate beginne ich hier mit Neumonden, genausogut wäre "Monatsbeginn" bei Vollmond möglich, schon Tacitus scheint anzudeuten, dass beides gemacht wurde.  Hier wäre also gerade ein "Schaltjahr" (13. 9. 250 bis 1.10. 251), der "Winter" beginnt zum frühmöglichsten Zeitpunkt, Mitte September.  Nach dem Schaltmonat im Sommer beginnt der "Winter" 251/2 nun zum spätmöglichsten Zeitpunkt, Anfang Oktober. "Jul 250/1" dauert vom 11.11. bis zum 8.1., "Jul 251/2": 30.11.-27.1., "Jul 252/3": 19.11.-16.1., usw. Astronomisch kommt es so heraus, dass der erste Mond des Jahres sowie Ostern um Tag-und-Nachtgleiche, und Jul (juhliz) und Lind (lenþ-, líða) um Sonnwende fallen. In der historischen Realität wurde das Jahr aber wohl nach vegetativen Kriterien eingeteilt, v.a. nach dem Zeitpunkt der Ernte: Herbst (=Ernte) war nicht eine Jahreszeit sondern ein Zeitpunkt, eine Unternehmung, die das Ende des Sommers und des Jahres markierte, und der Mond nach der Ernte den Winterbeginn. Die Idee, auf den Sonnenlauf zu achten und kluge Schaltregeln einzuführen, hat man von den Römern abgeguckt. Was die von Tacitus erwähnte Vokabel für ver "Frühling" war, wissen wir nicht; vielleicht die Vorform von Lenz. [s. a.
Reconstructing the Gothic Calendar.]
Nun erst sind wir bereit, nach einer vorgermanischen Etymologie für dieses Wort zu suchen. Und dafür bietet sich unter der Liste der längst vorgeschlagenen aber insgesamt als unsicher oder unglaubhaft abgestempelter Vorschläge derjenige an, der von der Wurzel jek- "sprechen" (davon mhd. jehan, und unser beichten) ausgeht, wozu lat. iocus "Scherz, ausgelassene Unterhaltung" (davon moderne Begriffe wie jeu "Spiel", joke "Witz", juggler/Jongleur/Gaukler usw.). An diese Wurzel trat ein -lo-Suffix, also sozusagen vorgermanisch jeklo-; analog gebildet wäre das oskische Wort iuklei mit der Bedeutung "Opfer".

Demnach hätte der Doppelmond um Mittwinter seinen Namen letztlich doch erhalten als die Zeit der Feste und Opfer, die um Mittwinter gewiss schon immer stattfanden. Nicht notwendigerweise nach einem grossen kultischen Hauptfest zu einem bestimmten Termin, in dieser (gemeingermanischen) Zeit wohl eher zu verstehen als sechzig Tage, während derer man nichts anderes zu tun hatte, als sich gegenseitig einzuladen, um ein Schwein zu schlachten oder von den Wurstwaren und anderen Wintervorräten zu zehren.

In diese Kultur wurde die Christmesse übernommen, ganz offensichtlich nicht als "Umpolung" oder Ausrottung der vorhandenen Bräuche (zumal diese ja wohl nichtmal vorwiegend religiös geprägt waren) sondern einfach als weitere "Attraktion" und zusätzlichen Grund zur Freude in diesen sowieso schon als "Festtage" gekennzeichneten Jahresteil. Und so ist es ja auch bis heute geblieben.

Die Benennung der Christmesse nach einem Jahresteil im Altenglischen verleitet zu folgender Idee: Könnte es sein, dass mit dem Namen der Ostern genau dasselbe passierte? Dass also das christliche festum paschale nach seiner Jahreszeit austrōn- der Name des Doppelmondes vor lid- gewesen sein könnte? (Die Existenz einer archaischen Lichtgöttin austrōn ist unbenommen, wir wissen ohnehin, das ausos eine ur-indogermanische Göttin war, und da Beda genau dies nicht wusste, ist sein Zeugnis der Erinnerung an eine Göttin austro- ernstzunehmen).


Zwölfnächte

Zuletzt noch zu den "Zwölfnächten". Inwiefern haben sie zu tun mit dem "Jul" in frühgermanischer Zeit, einem alten kalendarischen Hauptfest um Mittwinter, das mehrere Nächte dauerte, die ursprünglichen "Weihnachten" oder "Weihnächte" nämlich? Oder woher stammen unsere "Zwölfnächte" oder "Rauhnächte" denn sonst?

(Nachtrag Epiphanias 2013)
Meine Nachforschungen dazu haben sich etwas verselbständigt, so dass ich diesen Teil nun abgetrennt habe in einen separaten Eintrag "Zwölfnächte".

Sonntag, 14. Oktober 2012

Winternacht


Wenn man das Jahr mit dem Winter beginnen lässt, und den Tag mit dem Sonnenuntergang, dann doch sicher auch den Mond mit dem Leer- d.h. Neumond? Wenn das so ist, dann sind die kommenden mondlosen Nächte die Winternächte, und es gälte zu blóta í móti vetri til árs.

Also wünsche ich es Guets Nois meinem Garten und all den Hügeln und Feldern in Sichtweite.

Der Wintereinbruch in Surselva,
 15.10.2012



Gegen superstitio, d.i. den Übereifer in Kultsachen, gebe ich mir zugleich den folgenden Sinnspruch (aus Hávamál, je nach Zählung Strophe 144, 145 oder 146):
Betra er óbeðit en sé ofblótit, ey sér til gildis gjöf; betra er ósent en sé ofsóit. 
"besser nicht gebetet als zuviel geblotet; eh will Gabe Gegenleistung; besser nichts gespendet als zuviel geschlachtet"
Bellows 1936: Better no prayer than too big an offering, By thy getting measure thy gift; Better is none than too big a sacrifice
Simrock 1851: Besser nicht gebetet als zu viel geboten: Die Gabe will stäts Vergeltung. Besser nichts gesendet als zu viel getilgt

biðja
"bitten, beten"; blóta "opfern", senda "(etwas an jemanden) senden", sóa "vernichten, hingeben, opfern"
Dies ist die altnordische Form des do ut des: mit der bemerkenswerten Einschränkung, dass es eine Frechheit ist, zuviel zu opfern. Die Grösse oder Häufigkeit der Opfer zeigt, wieviel gute Gaben der Opferer von den Göttern einfordern zu können glaubt. Einer, der mehr opfert, als er nach seinem eigenen Wert eigentlich von den Göttern zugute hätte, belästigt die Götter. Kultisches Stalking.

Montag, 8. Oktober 2012

De spurclibus


Da bin ich doch auf meinem etwa jährlichen online-Streifzug, zu sehen, wie es um Jul stehe, auch und gerade mit Bezug auf das Pflänzchen Alte Sitte, auf folgendes gestossen:


O weh, wo anfangen? Bevor ich nun im Folgenden meine Häme ausgiesse, eine Klarstellung: dieser Odinsson hat sehr wenig Geduld mit Leuten, die das "Falsche" tun oder glauben, seien es nun Christen, Anhänger von Wicca oder "Wiccatru" oder Mainstream-Neuheiden. [Edit: folgende Streichung auf ausdrücklichen Wunsch im Kommentar vom 11. Oktober Christen sind allesamt perfide Sadisten und Teufelsanbeter. Wicca und "Wiccatru" sind arme Idioten, die nicht wissen, was sie tun. Alle heidnischen Vereine Deutschlands sind entweder Altnazis oder pseudoheidnische Heuchler, s. Christen.]
Wenn jemandem ein Fehler unterläuft, kann man das zivil und mit gut christlicher (sic) caritas aufzeigen, im Wissen um die eigene Fehlbahrkeit. Wenn aber jemand sich dermassen verrennt, und dann als einzige Möglichkeit dafür, dass niemand bisher auf diese "Goldgrube" gestossen ist, die offenslichtliche Ignoranz und traurige Unbildung aller Heiden Deutschlands beklagt, nun, in so einem Fall wäre die Übung von caritas wirklich etwas allzu-christlich.

Zuallererst, nein, Jul ist nicht und war nie identisch mit der astronomischen Wintersonnenwende. Weihnachten übrigens auch nicht. Wenn heute  jemand ein "Julblot" zum Zeitpunkt der astronomischen Sonnwende durchführen will, dann begrüsse ich das dennoch als hübsche Innovation innerhalb einer neuheidnischen Spiritualität. Natürlich nur, solange dabei nicht behauptet wird, man rekonstruiere damit ein antikes Ritual.

Was für ein "frühmittelalterlicher Text" wurde hier aber "ausgewertet"? Es geht um
"Die abergläubischen und heidnischen Gebräuche der alten Deutschen nach dem Zeugnis der Synode von Liftinae im Jahre 743" vom bischöflichen Konsortialrat Professor Franz Widlak
genauer um den Punkt:
Von den unsauberen Festen im Februar. ("De spurc libus in Februario" Indicul. superst. et pag. num. 3)
Leider wurde aber in der "Auswertung" nicht weiter verfolgt, wofür denn dieses ominöse "spurc libus" stehen könnte, und ebensowenig die Quellenangabe "Indicul. superst. et pag. num. 3". Dafür wird das völlige Fehlen eines "spurc libus"-Bewusstseins in heidnischen Vereinen gegeisselt:
Unerklärlich, dass heidnischen Vereinen so etwas nicht aufgefallen sein soll. Könnte dies daran liegen, dass in diesem Text ausdrücklich von heidnischen Priestern und Tempeln im Wald berichtet wird und wie der Bischof und Mönche diese persönlich diese zerstören musste, weil das Volk nicht wollte?
Nun, der fragliche Text ist der Indiculus superstitionum et paganiarum. Dieser sollte dem geneigten Leser von Grimms Deutscher Mythologie von 1835 bekannt vorkommen. Ediert wurde er 1835 in Monumenta Germaniae Historica, und später auch bei Grimm abgedruckt in Band 3 (Ausgabe von 1878, S. 403f). Den Text vollständig abzudrucken ist auch nicht schwierig, denn es handelt sich um ein einziges Manuskriptblatt (beidseitig) aus dem späten 8. Jh. (Cod. Pal. lat. 577 fol. 7). Die Seite ist das Inhaltsverzeichnis zu einem verlorenen Text über den Aberglauben unter den Franken in den 740er Jahren, also der Zeit der "germanischen Konzile" unter Leitung von Bonifatius. Dass dieser Text verloren gehen musste, und erst noch das Inhaltsverzeichnis erhalten blieb, um uns vor Augen zu führen, was wir eben nicht mehr haben, das fand schon Grimm "sehr zu beklagen". Und das ist es auch. Die fränkische Bevölkerung im 8. Jh. hing natürlich längst nicht mehr einem "germanischen Heidentum" in Reinkultur an. Nominell war sie seit Menschengedenken christianisiert, und die Volksreligion stellte sich als abenteuerlicher Synkretismus aus germanischen, gallo-romanischen und christlichen Elementen dar.

Der Franz Widlak, dessen Schrift über die Gebäuche der alten Deutschen hier bemüht wird, war um 1900 Gymnasialrektor im mährischen Znaim (Znojmo), damals in Österreich-Ungarn. Er war wohl "k. k. Professor" und "bischöflicher Konsistorialrat" (und nicht *"Konsortialrat"), Titel, wie man sie im k.u.k. Österreich wohl einem tüchtigen Rektor verlieh, aber das macht ihn noch nicht zum hohen Kleriker, der wie Torquemada mit wehendem Mantel, Perfidie und Daumenschraube gegen das Heidentum durchgreift. Seine Schrift über die Gebräuche der alten Deutschen ist ein kleines Pamphlet mit 36 Seiten, das er im Selbstverlag (d.h., zusammen mit einem Gymnasium-Blättchen) herausgegeben hat. Dummerweise unterlief ihm genau im hier "ausgewerteten" Abschnitt ein Druckfehler, und so steht nun de spurc libus unter Punkt drei, wo die Handschrift hat
De spurcalibus in febr[uario]

Kein Wunder stösst man also bei Google auf bedenkliche Leere bei Verwenden des Suchbegriffs "spurc libus". Ähnlich verhält es sich mit Widlaks "Synode von Liftinae": nach 1900 deutet diese Schreibweise fast ausschliesslich auf Rezeption von Widlaks Büchlein, und von aussliesslich diesem. Die fragliche Synode ist besser bekannt als diejenige von Estinnes (oder von Leptinä). Sie war das zweite "germanische Konzil" unter Leitung von Bonifatius, und tatsächlich wurde der verlorene Text, dessen Inhalt der Indiculus zusammenfasst, wohl im Zusammenhang dieser Synoden erstellt (dazu gibt es eine abweichende Meinung, s.u.). Die erhaltene Manuskriptseite dagegen ist um die 50 Jahre jünger und stammt aus sächsischem Kontext. Unmittelbar davor in derselben Handschrift (6v, 7r) ist uns auch das berühmte Sächsische Taufgelöbnis überliefert, eines unserer wichtigsten Zeugnisse für die kontinentalgermanischen (sächsischen) Hauptgötter zu dieser Zeit, Thunaer, Uuôden und Saxnôt. Die Idee ist hier, dass der Text über den fränkischen Aberglauben hier für die Bekehrung der Sachsen "rezykliert" wurde, d.h. die Sachsen waren zu dieser Zeit im Gegensatz zur Bevölkerung im Gebiet des heutigen Belgien sehr wohl noch eigentliche "germansiche Heiden".

Die Germanistik war selbstverständlich in der Lage, die Bedeutung des Indiculus auch ohne die Hilfe von Franz Widlak zu würdigen. Grimm zog daraus, was er konnte. Im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (Bd. 15, 2000) sind ihm 15 Seiten gewidmet. Eine Monographie dazu erschien 1966 (Homann, Diss. Göttingen, non vidi). Unkenntnis von Widlak ist also keineswegs gleichbedeutend mit Unkenntnis des Indiculus selbst.

Der Odinsson repliziert nun den Kommentar bei Widlak zu Punkt drei des Indiculus und macht deutlich:
Dies ist ein übersetzter lateinischer Text aus dem 8. Jahrhundert, von christlichen Missionaren, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, dass Heidentum zu vernichten und dies mit Perfidie und Methode betrieben.


In Wirklichkeit handelt es sich einen modernen Kommentar. Der frühmittelalterliche Text lautet schlicht und ergreifend: De spurcalibus in Februario.

Es folgt die Auswertung des frühmittelalterlichen Textes:
Offenbar gab sich die fränkische Bevölkerung des 8. Jh. im Monat Februar gewissen ausschweifenden Feten hin, die an Bonifatius' Synoden missbilligend zur Sprache kamen.
Ende der Auswertung des frühmittelalterlichen Textes.

Wie steht es aber um die Rezeption des Indiculus, oder gar Widlaks, in den deutschen neuheidnischen Vereinen? Nach raschem Googlen finde ich, dass ausgerechnet der vielgeschmähte "Geza, Allsherjargode" sich vergangenen März dazu geäussert hat, und zwar (abgesehen vom "Lichtgruß") ausgesprochen sachlich und wohlinformiert:

Mir liegt die Fassung von Prof. Franz Widlak, Znaim o. J. (Gründerzeit) vor, auch dort stehen nur die Verbote als Überschriften und er fügt seine eigenen Kommentare hinzu. Der Indiculus besteht nur aus diesen Überschriften. Lichtgruß, Geza
Man kann dem guten Geza von Neményi gewiss alle möglichen Sünden vorwerfen, Mangel an germanistischer Bildung oder Quellenunkundigkeit scheint jedenfalls nicht dazuzugehören.

"Gründerzeit" meint gemeinhin so etwa 1850-1880; Widlaks Büchlein datiert aber nach 1900;  laut Reallexikon war der ursprüngliche Publikationsort das "Schulprogramm Znaim 1903/04"; derartiger Abdruck zusammen mit Schul-Interna war damals für akademische Essays von Rektoren gang und gäbe. Ja, erstaunlicherweise gibt es noch einen anderen Rektor, diesmal Heinrich Albin Saupe aus Leipzig, der 12 Jahre vor Widlak (1891) genau dieselbe Übung unternahm und ebenfalls auf 36 Seiten im Grossen Programm des städtischen Realgymnasiums zu Leipzig seinen Kommentar drucken liess, unter dem Titel Der Indiculus superstitionum et paganiarum, ein Verzeichnis heidnischer und abergläubischer Gebräuche und Meinungen aus der Zeit Karls des Grossen. Die Übereinstimmung der Seitenzahl macht stutzig, und es würde mich interessieren, ob Widlak 1903 vielleicht ganz einfach den Aufsatz von Saupe 1891 geklaut hat? Oder vielleicht gar mit Erlaubnis nachgedruckt? Leider liegt mir keiner der beiden Publikationen vor, so dass ich das nicht entscheiden kann.

Es stellt sich aber heraus, dass die Erläuterung zum Indiculus bei Widlak nicht etwa dessen "eigene Kommentare" sind, vielmehr sind sie Wort für Wort übernommen von Seiters, Bonifacius, der Apostel der Deutschen (1851). Bestimmt würde das deutlich, wenn man die Einleitung von Widlaks Publikation lesen würde (die mir nicht vorliegt).


Wenn wir schon mal soweit sind, was war also Seiters' Meinung zu diesen "Ausschweifungen im Februar"?
Im Februar wurde unter Mummereien, Trinkgelagen, und Schmausereien das Julfest, das Fest der wiederkehrenden Sonne gefeiert, wobei ein Eber geopfert wurde; der Februar war überhaupt der Monat heidnischer Feste. Man hat den in Niederdeutschland und in Holland noch jetzt üblichen Namen des Februars, Sporkel oder Sporkelmaand, mit diesen Spurcalibus [sic, Spurcaliburs ist diesmal Odinssons Tippfehler, nicht Widlaks Druckfehler] in Verbindung gebracht und auch den Namen Hornung von den in diesem Monat häufig geleerten Hörnern bei Festgelagen ableiten wollen. Das Volk hing fest an diesen Lustbarkeiten. Um es davon abzubringen, veränderten die Apostel Deutschlands zuerst den Zeitpunkt und liessen diese Lustbarkeiten am Fest des hl. Thomas (21. Dezember.) anfangen  und am 13. Jänner enden. Statt dem Jul wurden der Geburt Christi die Freudentage gewidmet. So veränderte sich der abgöttische Gebrauch in einen heiligen, christlichen. In den Faschingslustbarkeiten sind noch jetzt heidnische Überbleibsel unverkennbar. (p. 431)
Wie man obigen Abschnitt ernsthaft für eine Übersetzung eines frühmittelalterlichen Textes halten kann ist mir gelinde gesagt schleierhaft (SporkelmaandFaschingslustbarkeiten? "noch jetzt üblich/unverkennbar"?) Der gute Rektor Widlak würde sich ja die Augen reiben, was ein trivialer Druckfehler in seinem Pamphlet 100 Jahre später anrichten konnte.
Ich bin nicht sicher, ob mein Tonfall hier richtig rüberkommt: Für mich ist das ein Schenkelklopfer, ich war gestern den ganzen Tag über dieses Missgeschick bestens gelaunt. Die Komik rührt daher, dass ein Hardcore-Rekonstruktionist treuherzig den Buchstaben von Widlaks Text übernimmt und sich dann  über das sträfliche Unwissen über die germansiche Feier spurc libus im heutigen Neuheidentum entsetzt. Ausserdem verspüre ich bereits Vorfreude darauf, dass sich die Sache im Internet-Heidentum verbreiten wird, bis mir eines Tages dann einer an irgendeinem Mittelaltermarkt oder Stammtisch mündlich davon berichten wird. 


Weshalb Seiters das Julfest im Februar ansiedeln will, ist dagegen eine gute Frage.
  • Laut Beda entsprachen ja die Monate giuli Dezember und Januar (December Giuli, eodem quo Januarius nomine, vocatur). Genauer: se ǽrra geóla "Vor-Jul" = Dezember, und se æftera geóla "Nach-Jul" = Januar. Woraus mmn. nichts anderes zu schliessen ist als dass geóla = Die Zwölfnächte.
  • Dass der niederländische sporkelmaand sich von diesen spurcalibus ableiten wurde bereits 1783 vom Bischof von Antwerpen vermutet  (Gallée 1894:251Nos hodieque Februarium vocamus Spurekal),  dass es sich dabei um Schweineopfer gehandelt habe, schient Seiters' eigene Idee zu sein (die aber in den 1880ern noch vertreten wurde, vgl. Auermann, Germanenglaube, 1939/40:223; .  Nebenbei sind hier (infolux.uni.lu) noch einige Details zu Spierkel, spurcalia. Das Problem liegt dabei, dass lat. spurcalia selbst nur spät und undeutlich belegt ist, und möglicherweise etwas mit Schweinen zu tun hatte; zugrunde liegt aber ein besser belegtes spurcus "schmutzig". Ob porcus, das Schwein, dann wiederum "das schmutzige Tier" hiess, ist dann bloss noch eine Frage der lateinischen Etymologie (und sicher nicht des Julfestes).
  • Der Name Hornung bzw. Horn für Februar bzw. Januar ist schwer zu erklären, aber ausgerechnet mit Trinkhörnern muss der Name nun wirklich nicht zu tun haben (Grimm: von dem hornharten froste hergeleitet; meine Privathypothese: die "Hörner des Jahres"; ganz abgesehen davon, dass während der Name sporkelmaand tatsächlich zum fraglichen geographischen Gebiet gehört,  Hornung in ganz Mitteldeutschland verbreitet war und nicht das geringste mit diesen fränkischen spurcalibus zu tun haben muss). 
Was das alles weiter mit Jul zu tun haben soll, ist mir nicht klar. Vielleicht via Schweineopfer (nb. selbst schon eine Hypothese) Freyr Alfablot Mittwinter? Ein Schweineopfer im Februar erscheint mir aber schon rein aus praktischen Gründen ausgeschlossen. Schweine werden im Herbst oder zu Winteranfang geschlachtet. Niemand füttert ein Schwein erst durch die harten Wintermonate, und schlachtet es dann just kurz bevor es sich wieder auf der Weide mästen könnte. Allenfalls könnte es auf ein Wurst-Aufessen gegen Winterende gegangen sein? Hier sind wir im Reich der reinen Spekulation. Auf jeden Fall lohnt es sich, diese "Besudelungen im Februar" im Hinterkopf zu behalten im Bezug auf ihren möglichen Zusammenhang mit der Fasnacht (den "Faschingslustbarkeiten"): Die Fasnachtsbräuche wie wir sie kennen entstehen im Spätmittelalter. Es gibt genug Quellen, die sich über das Ausufern dieser "neuen Bräuche" im 15. Jh. auslassen, so dass es eindeutig ist, dass damals neues Brauchtum eingeführt wurde. Aber natürlich kommt auch neues Brauchtum nicht aus dem luftleeren Raum sondern hat Anknüpfungen an Älteres, und indirekt setzen sich in der Fasnacht gewiss vorchristliche Bräuche fort. Die gängige Meinung ist, soviel ich weiss, dass älteres Brauchtum aus den Raunächten (also Jul-Brauchtum) im Spätmittelalter in die Fastenzeit hinübergewirkt hätte. Nun wäre aber hier mit diesen spurcalibus allenfalls ein zusätzlicher Anknüpfungspunkt für die Fasnacht an ältere Bräuche.

Einmal mehr bestätigt sich, dass, wer sich für germanisches Heidentum interessiert, sehr sehr gut daran tut, zuallerserst einmal Grimms Deutsche Mythologie aufmerksam zu lesen. Daran führt einfach kein Weg vorbei. Dies ist heute umso empfehlenswerter, als Grimms Werk frei zugänglich auf dem Internet herumliegt, und jeder Mensch mit Internetzugang, der deutsch oder englisch versteht, kann es lesen. Was dann seit 1835 dazu kam oder verworfen werden musste, kann im Vergleich dazu getrost als nice to know Expertenwissen betrachtet werden; wer es wirklich genau wissen will, muss dann halt das Reallexikon wälzen.

Wenn wir aber schonmal dabei sind, wieso betrachten wir im Vorbeigehen nicht auch noch den Indiculus als ganzes. Das wäre wohl einen eigenen Artikel wert, aber vorläufig finde ich beim besten Willen keine Zeit, das im Detail zu recherchieren:

I. de sacrilegio ad sepulchra mortuorum. II. de sacrilegio super defunctos, id est dadsisas. III. de spurcalibus in Februario. IV. de casulis, id est fanis. V. de sacrilegiis per ecclesias. VI. de sacris silvarum quas nimidas vocant. VII. de his quae faciunt super petras. VIII. de sacris Mercurii vel Jovis. IX. de sacrificio quod fit alicui sanctorum. X. de phylacteriis et ligaturis. XI. de fontibus sacrificiorum. XII. de incantationibus. XIII. de auguriis, vel avium vel equorum vel bovum stercore, vel sternutatione. XIV. de divinis vel sortilegis. XV. de igne fricato de ligno, id est nodfyr. XVI. de cerebro animalium. XVII. de observatione pagana in foco, vel in inchoatione rei alicujus. XVIII. de incertis locis quae colunt pro sacris. XIX. de petendo quod boni vocant sanctae Mariae. XX. de feriis quae faciunt Jovi vel Mercurio. XXI. de lunae defectione, quod dicunt Vinceluna. XXII. de tempestatibus et cornibus et cocleis. XXIII. de sulcis circa villas. XXIV. de pagano cursu quem yrias nominant, scissis pannis vel calceis. XXV. de eo, quod sibi sanctos fingunt quoslibet mortuos. XXVI. de simulacro de consparsa farina. XXVII. de simulacris de pannis factis. XXVIII. de simulacro quod per campos portant. XXIX. de ligneis pedibus vel manibus pagano ritu. XXX. De eo, quod credunt, quia feminae lunam commendent, quod possint corda hominum tollere juxta paganos

(über...) 1. das Opfer an den Gräbern der Toten; 2. das Opfer über den Toten, d.h. dadsisas (dadis as =Totenmahl?); 3. die Besudelungen im Februar; 4. Häuschen, d.h. Heiligtümer; 5. die Opfer bei Kirchen; 6. die Heiligtümer der Wälder, die sie nimidas nennen; 7. Handlungen, die sie auf Steinen tun; 8. die Heiligtümer Merkurs oder Jupiters; 9.  das Opfer für irgendwelche Heiligen; 10. Bänder und Fesseln;  11. heilige Quellen; 12. Beschwörungen; 13. Wahrsagerei aus den Vögeln, den Pferden dem Kuhmist oder aus dem Niesen; 14. Wahrsager und Losdeuter; 15. durch das Reiben von Holz erzeugte Feuer, d.h. Notfeuer (nodfyr); 16. das Gehirn von Tieren; 17. die heidnischen Verrichtungen am Herde oder beim zu Beginn von irgendwas; 18. ungenau bekannte Orte, wo sie Heiligtümer verehren; 19. die Anrufung, die die Guten die der Hl. Maria nennen(? Widlak: Strohbündel, St. Marienbündel?); 20. [Seiters, p. 438: diese Überschrift ist durchaus rätselhaft und aus den Worten nicht zu erklären]; 21. die Mondfinsternis, welche sie "Sieg-Mond" (vinceluna) nennen(?); 22. Unwetter, Hörner und Löffel; 23.  die Gräben um die Höfe; 24. Die heidnische Zusammenkunft mit zerrissenen Kleidern und Schuhen, die sie Yrias (Seiters liest  Frias und vermutet einen Dienst der Frea) nennen; 25. was sie sich über 'heilige Tote' zusammendichten; 26.  das Götzenbild aus verstreutem Mehl; 27. das Götzenbild aus Tuchstücken; 28. das Götzenbild, das sie über die Felder tragen; 29. hölzerne Füsse oder Hände nach heidnischem Brauch; 30. der heidnische Glaube, dass Frauen dem Mond vertrauen, so dass sie nach heidnischer Meinung die Herzen der Menschen wegnehmen können.
Das ist gar nicht so wenig für ein blosses Inhaltsverzeichnis. Die Rede ist von Totenverehrung, Wahrsagerei (u.a. mit dem Mist und mit Gehirnen von Tieren, und mit Niesen), Kultstätten (an Quellen, im Wald, auf Steinen, in kleinen Hütten, daneben offenbar auch in oder bei christlichen Kirchen). Als Götter sind zweimal "Merkur oder Jupiter" genannt. Ob es sich hier um Wotan, oder um Wotan und Donar, oder aber um die römischen bzw. gallo-romanischen Götter selbst handelte, lässt sich wohl nicht sagen (vielleicht vor lauter Synkretismus auch damals schon nicht; das Reallexikon nimmt hier aber den Verweis auf "Wodan und Donar" zum (eher wackligen) Indiz für sächsischen Ursprung), sowie die Verehrung einzelner "Heiliger", d.h. das Übergehen des Polytheismus in die mittelaltelriche Heiligenverehrung. Daneben Handlungen die eher dem klassischen "Aberglauben" entsprechen, d.h. Verrichtungen am Herd, zu Beginn von Unternehmungen,  gegen Unwetter (mit Hörnern und Löffeln), Gräben oder Furchen zum Schutz des Hofes, ein spezielles, durch Reibehölzer entfachtes Feuer mit dem Namen nodfyr "Notfeuer", dann Magie mithilfe von geflochtenen oder geknüpften Bändern, die Existenz von Kultbildern aus Mehl und aus Stoff, sowie das Herumtragen von von Kultfiguren auf den Feldern, genauso, wie das bis in die moderne Zeit vielerorts Brauch geblieben ist, dazu Hinweise auf hölzerne Hände und Füsse, wie man sie ebenfalls bis heute in katholischen Kirchen findet. Ein heidnisches Fest "Yrias" (oder Frias?), das mit zerrissener Kleidung gefeiert wird, sowie gewisse Bräuche im Februar, für die die frommen Bischöfe nur das Wort spurcalia "Beschmutzungen" fanden. Schliesslich noch etwas über Mondfinsternisse, und am Ende ein bemerkenswerter "Mondzauber" der an die Quellen zu "dianagläubigen" Frauen aus derselben Zeit erinnert.

An dieser Stelle muss der Vollständigkeit halber gesagt werden, während Pertz 1835, Grimm 1835, Seiters 1851 und eben auch Widlak 1903 davon ausgehen, der Indiculus halte fränkische Zustände um 740 fest und sei nur zufällig in einer Abschrift um 790 erhalten, gibt es spätestens seit den 1890ern auch die Auffassung, der Text habe nichts mit Bonifatius, Leptinä oder Franken zu tun und stamme ursprünglich von etwa 780 und beziehe sich direkt auf die Sachsen (Hauck 1890:357¹, Gallée 1894:249-251). Das Reallexikon vermerkt denn auch, die Beurteilung der Herkunft des Indiculus sei "umstritten". Dies ist mmn. genau so eine nice to know Germanisten-Debatte, die ganz gewiss weder jeder Germanist noch jeder Heide am Schnürchen haben muss. Das Problem ist, dass der Inhalt des Textes sich deutlich auf bereits christianisierte Bevölkerung bezieht, die sich die christlichen Heiligen bereits in ihr heidnisch-abergläubisches Weltbild eingebaut haben (was bei eben erst bekehrten Sachsen kaum der Fall wäre), während der Lautstand der germanischen Wörter dadsisas, nimidas und nodfyr im Text eben nicht fränkisch sondern sächsisch scheint. Dazu werden ausgerechnet die spurcalia in februario als Indiz zitiert, wobei es sich um ein "westfälisch-niederrheinisches Frauen- und Fruchtbarkeitsfest" handeln soll. Nun, vielleicht haben die modernen Germanisten recht und Grimm nicht. Wobei, "westfälisch-niederrheinisch" an sich deutet ja noch nicht unweigerlich auf die Sachsen, sondern eben auf das Grenzgebiet zwischen Franken und Sachsen. Wenn ich entscheiden soll, überwiegt für mich eher der Inhalt, nämlich das Bild eines totalen heidnisch-christlichen Synkretismus, wie er erst wenige Jahre nach der Bekehrung Widukinds bei den Sachsen noch kaum geherrscht hätte. Und immerhin heisst der Februar Sporkel in den Niederlanden und nicht in Sachsen. Ob wir hier einen echten Fortschritt der Forschung gegenüber den "älteren Meinungen" haben oder doch eher ein blosses akademisches Zerreden (was ja auch vorkommen soll), bleibe hier einmal dahingestellt.

Wir hätten hier also, wenn wir weiter Grimm und Widlak folgen und die sächsische Abschrift für blosses "recycling" halten,  eine Momentaufnahme der Volksreligion aus dem Gebiet des heutigen Belgien im frühen Mittelalter. Kurz gesagt, im 8. Jh., mehr als 200 Jahre nach der Christianisierung, blühte ein reicher und aktiver Volksglaube im Frankenland. Weit davon entfernt, dass "in den kirchlichen Giftschränken die komplette Glaubenswelt unserer Ahnen vor uns versteckt wird" (Odinsson), ohne die damalige Schriftkultur und dem Dokumentationseifer der Bischöfe wäre nicht einmal das wenige von dieser Glaubenswelt überliefert worden, das wir heute haben.

Mein Verständnis des Projektes Alte Sitte ist die Auffassung, dass dieser Volksglaube eben gar nie aufgehört hat, zumindest nicht bis zur Reformation oder gar bis zur Industrialisierung. Und "angefangen" hat er eben auch nie: Ich bin sehr wohl der Ansicht, dass es "die Germanen" gegeben hat, genauso, wie es in der Antike auch "die Griechen" (Hellenen) gab. Diese Bezeichnungen sind ethnographisch (und nicht nur linguistisch) sinnvoll, spiegeln ein reales Bewusstsein der Verwandtschaft zwischen den einzelnen Stämmen innerhalb dieser Volksgruppen.
Eine "germanische Religion" gab es dann aber in genau demselben Sinn, wie es eine "griechische Religion" gab: eine Überlagerung und ständig im Fluss befindliche Vielheit von regionalen aber miteinander in Bezug stehenden Traditionen (wer sich unter griechischer Mythologie die genormte Fassung nach Ovid vorstellt, der lese Burkert). Aus der Volksfrömmigkeit in Belgien im 8. Jh. irgendwelche zwingenden Schlüsse auf das Datum des "germanischen Jul" (wann? wo? 200 v. Chr.? 100 n. Chr.?) zu ziehen ist von Anbeginn an hoffnungslos. Genauso sinnlos ist die Frage "an welchem Tag feierten die Germanen Jul". Genug, dass ein Julfest um Mittwinter eine gemeingermanische Sache ist, die die einzelnen regionalen Traditionen miteinander verbindet. Über Einzelheiten wird man jede Region, jeden Stamm und jedes Jahrhundert separat befragen müssen, und das ist auch gut so: Genau das macht die antiken Religionen zu "Heidentum", nämlich im Gegensatz zu universalistischen Buchreligionen mit einheitlichem Festkalender (oder meinetwegen macht es sie zu "Naturreligion", obwohl ich zu diesem Kompositum, eine etwas unverantwortliche Verbindung von zwei selbst schon hochdiffizilen Begriffen, einiges zu sagen hätte).

Dienstag, 24. Juli 2012

Der Böölibooz

Was hat ein vermummtes Schreckgespenst mit getrocknetem Nasenschleim zu tun? Die Frage scheint nicht offensichtlich, aber noch viel weniger offensichtlich gestaltet sich die Antwort.
Aufdrängen tut sich die Frage, weil beides mit demselben Wort bezeichnet wird, und zwar nicht zufällig, sondern systematisch, deutsch und englisch:
  • Popel (Böppel, Bobbele, dazu auch Popelmann, Popelhans Popanz): einerseits "Fasnachtsmaske, Schreckgespenst", andererseits "getrockneter Nasenschleim"
  • Bögge (Böggel, Böggli > Böli; Boggelmann, Bögglmann > Bölimann, zürichdeutsch Böögg): einereseits "vermummte Schreckgestalt, Fasnachtsmaske"; andererseits: Böögg, Böögge "getrockneter Nasenschleim".  Idiotikon: Böögg (IV.1082ff.) "Vermummter, Popanz, Strohpuppe, Vogelscheuche, Schreckgespenst; hässliche, missgestaltete Kreatur; Klümpchen getrockneter Nasenschleim"
  • Englisch bogey (bug, bog, bogle, boggle, bogy, bogeymanbuggard, boggart, booger) "Schreckgespenst, Dämon"; bogy, booger: "getrockneter Nasenschleim"
  • Butz, Butze "Vogelscheuche, Vermummter, Schreckgespenst" und auch (veraltet) "Rotz"
Diese doppelte (Lexeme bögge und butz; zu popel s.u.) Doppelbedeutung (Gespenst, Nasenschleim) ist natürlich von Grimm bemerkt worden (im Wörterbuch unter bögge, bögk und unter butze, butz): 
bögge (...) "vermummte gestalt" (...)  aber auch (...) böögge "rotz" ... grade wie butz sowol "larve, popanz " als "rotz" ausdrückt

Die Frage ist "weshalb", und sofort auch "seit wann".


Auf den ersten Blick scheinen wir hier ein altes, aber sehr lebendiges, Begriffsgebilde vor uns zu haben, mit zentraler Bedeutung für den Volksglauben, für Masken- und Fasnachtsbräuche und allenfalls Jenseits- und Seelenbegriff, und eben auch deshalb lebendig, weil es von Wichtigkeit ist in der Kindersprache und der kindlichen Vorstellungswelt. Diese Wörter haben dialektal derart gewuchert und sich verändert und verformt, dass ein Zurückverfolgen seiner Ursprünge nur sehr schwer möglich ist. Im folgenden ein Versuch einer Auslegeordnung. Wichtig dazu ist neben dem immer unentbehrlichen Jacob Grimm diesmal besonders das Schweizerische Idiotikon, sowie ein ausführlicher Aufsatz über Masken, Maskereien von Karl Meuli (1933, HDA 5, 1744-1852 = ges. Schriften, 1975, 69-162) und ferner noch die Überlegungen Über den Butzenmann von Ludwig Laistner (ZdA 32 (1888), 145–195). 


Um das Resultat vorwegzunehmen, ich stosse für butz und bögk auf zwei Verben, germanisch ausgedrückt bautjan und pūkan, d.i. englisch to beat und to poke (bei uns hätten sie etwa botzen, bossen und pocken, pochen ergeben), mit einem Bedeutungsfeld "schlagen, hauen, stechen, stochern, klopfen, pochen".

Nasenunrat


Trotz der frappanten Parallelen lässt sich die Bedeutung "trockener Nasenschleim" (Laistner: "Nasenunrat") erst ziemlich spät nachweisen. Deutsch butze neben einer allgemeineren Bedeutung "Klumpen, Stückchen, Schmutzpartikel" in dieser Bedeutung im 15. Jh.; US-Englisch booger erscheint im 18. Jh. in der Bedeutung "Gespenst" und erst in den 1890ern in der Nasenschleim-Bedeutung. Britisch bogy taucht als verniedlichende Form des älteren bug, bog erst im 19. Jh. auf, und die Nasenschleim-Bedeutung gar erst in den 1930ern. Die auf den ersten Blick urtümliche Parallele im Englischen mag also täuschen, und wie so oft im volkstümlischen Englisch aus frühmodernen Kontakten mit der niederdeutsch-niederländischen "Küstenkultur" stammen.

Aufschlussreich ist die Doppelbedeutung von Bützel, einerseits  "Zwerg, Wichtel" und andererseits "Tumor, Geschwulst" (also ein "Klümpchen"). Die Bedeutung "Klumpen" wurde speziell auf den eingetrockneten Nasenschleim bezogen, der butz der nasen, wovon dann auch das Wort putzen kommt, nämlich "befreien von Schmutzklümpchen", speziell die Nase putzen (aber auch für die Lampe putzen, nämlich "den Docht von Russklümpchen befreien"; die allgemeinere Bedeutung von "reinigen" überhaupt ist jünger). Dieselbe Bedeutung "Klumpen" ergibt auch die engere Bedeutung "Kerngehäuse des Obstes", was bei uns überlebt als das Bütschgi (Bitzgi, Bützgi, usw.) Der Putz, im Sinne von "Schmuck und prunkvolle Kleider, besonders von Frauen", wovon sich herausputzen, kommt erst im 17. Jh. vor, scheint aber direkt von der alten Bedeutung der Vermummung inspiriert (und nicht von putzen "reinigen").  Mit der "Klumpen"-Bedeutung verwandt sind altnordisch bútr "Holzscheit", mittelenglisch butt "stumpfes Ende". 

Wieso aber ausgerechnet  "Nasenunrat"? Ich habe dazu eine persönliche Meinung als Muttersprachler, aber sachlich kann man dazu allenfalls noch die Wichtigkeit der Nase der Percht ("mit der eisernen Nase", "mit der langen Nase") erwähnen:


Vnd etlich glaubent an die frawen / Die do heisset percht mit der langen naß
Hans Vintler (ca. 1411); Abb.: Joh. Blaubirer (1486)


Diese Nase war so prominent, dass daraus schliesslich gar ein Schnabel ("Schnabelpercht") geworden ist  (oder war sie gar zuerst ein Schnabel und wurde später zur Hexennase? So spekuliert Timm (2003) — Gimbutas' bird goddess lässt grüssen— und das würde die Sträggele erst recht zur strix "Nachteule, Hexe" machen, tut hier aber nichts zur Sache). 
Dass diese Nase besonders mit Rotz gesegnet sei, teilt uns Vintler nicht mit, aber spätestens um 1750 ist das bei der schwäbischen Butzen-Percht sehr wohl der Fall,

Die Gunckel [=Spinnrocken] will ich so einfüllen voll mit Rotz / Daß sie recht tropfnen soll (...) Geißkugeln seyn die Speisen / Mein Rotz ist das Getränck. 
Popel scheint erst später dazuzukommen, aus dem Wort Puppe, das erst im 15. Jh. aus lat. pupa übernommen wird. Umso bemerkenswerter, dass auch dieses Wort sich bald auf das ganze Bedeutungsfeld ausgebreitet, inbegriffen nicht nur der Rotz, sondern auch das Verb verpuppen für Insektenlarven, und Popanz = Popel-Hans "vermummter Unhold": obwohl Puppe wohl ein Lehnwort ist, verhält es sich sofort, als sei es völlig einheimisch. (oder von bullern = poltern? Grimm 288)



Kobolde und Schreckgespenster

Dazu gehört wohl der engl. puck "böser Geist, Kobold", viel früher bezeugt als die bug, bogey, booger usw. späterer Jahrhunderte (das verniedlichende pixie ist ein Diminutiv dazu). Altenglisch puca glossiert larvula, und wandrigende pucan steht für vagantes demonasIn mittelalterlichen Ortsnamen vielfach in Sussex (wie Pucherugge > Puckeridge, Pokshudde > Puckshot, u. a.) was die Autoren von Place-names Sussex (1930) zur Bemerkung veranlasste, die Grafschaft sei goblin-haunted to an extent without parallel elsewhere

D
ie Bedeutung "Insekt" für engl. bug datiert n.b. erst auf das 17. Jh., und zwar via die Bedeutung Larve, d.h. Insektenlarve. Der älteste bekannte Beleg für das engl. Wort stammt aus der Wycliffite Bible (ca. 1425) und bezeichnet eine Vogelscheuche, interessanterweise an einer Stelle, wo Götzenbilder mit einer nutzlosen Vogelscheuche verglichen werden (Baruch 6:69):
As a bugge either a man of raggis in a place where gourdis wexen kepith no thing, so ben her goddis of tree. 
"So wie ein böögg, oder ein Mann aus Lumpen, in einem Gurkenfeld nichts behütet, so sind ihre hölzernen Götter."
Deutlich wird hier, dass der Übersetzer hier bugge "Vogelscheuche" zur Sicherheit noch mit einer Erklärung "d.i. ein Mann aus Lumpen" glossiert, demnach nicht sicher war, ob das Wort seinen Lesern (in dieser Bedeutung) geläufig sei. Ob ihm noch fühlbar war, dass das Wort bugge selbst, bevor es eine profane Lumpenpuppe bezeichnete, aus der Begriffssphäre der Götzenbilder hinabstieg, weiss ich nicht, diese Möglichkeit gibt der Stelle aber zusätzlichen Tiefsinn.
Das mittelenglische bugge wird vom OED versuchsweise auf ein britisches Wort zurückgeführt (walisisch bwg, kornisch bucca), d.i. aber alles andere als zwingend, denn diese keltischen Wörter sind erst mehr als hundert Jahre nach dem angeblich davon entlehnten englischen bezeugt; der OED ist bei unklaren Etymologien gerne mal etwas brito-zentrischer als er sein müsste. Die genaue Übereinstimmung mit den Bedeutungen der Böögg-Sippe auf dem Kontinent macht eine blosse Entlehnung aus dem Britischen aber praktisch unmöglich.


Wenn zu puca (echtes Altenglisch) bzw. bugge (möglicherweise vom Kontinent oder aus dem walisischen zurückentlehnt) wirklich unser bögge, bögk gehört, hätten wir hier einen recht alten (gemein-westgermanischen) Namen für einen Kobold oder Feld- Wald- und Wiesengeist.


Den butz als Spukgestalt sucht man im englischen butt dagegen vergeblich, dieses Wort gehört in den Süden, und ist als butz, bauz, booz "Unhold, Schreckgespenst" noch in der ganzen Deutschschweiz vertreten. Dass diese Bedeutung die ursprüngliche sei, ist aber eine Vermutung, denn mittelhochdeutsch verbreitet sich dieses Wort im Zusammenhang mit der Fasnacht.


Vermummte und Fasnachtsnarren

Die Gleichbedeutung von butz und bögk bestand spätestens seit dem ausgehenden Mittelalter, wie in Brants Narrenschiff (1499)  deutlich:

Wann man heilig zyt soll vohen an / So hyndern sie erst yederman / Eyn teyl die du ͦnt sich vast berutzen / antlitt und lib sie gantz verbutzen / und loufen so jnn bo ͤucken wiß

Im 15. Jh. hielt man das für einen neuen Brauch:
So ist ouch ein nüwe gewonheit hie ufferstanden, das man im atventanfaht in böken wise zu gonde und erber lüte zu überfallende in iren hüsern (Basel 1418)
Böög=Butz auch bei Maaler (Pictorius, Die Teütsch Spraach, 1561): 
bögk, personatus der ein butzenantlit tregt, der verbutzet und verbögket ist. 
und Luzern 1579 in Bööggen oder Butzen Wys gan.

Wichtig ist hier die bis ins 16. Jh. stabile Wendung in butzen/böcken wis, d.h. die Fasnächtler sind nicht Butzen, sondern sie stellen bloss Butzen dar, verhalten sich in einer Weise, als ob sie Butzen wären. Der wohl früheste Hinweis auf dieses in butzen wis gehen stammt von Walther v. d. Vogelweide, 




si sehent mich niht mêr an in butzen wîs als sî wilent tâten

hier noch nicht in fasnächtlichem Zusammenhang: vielmehr war der abgerissene, verarmte wandernde Sänger von seinen Nachbarn in butzen wis angesehen worden (Merkelbach 1952: man hatte ihn angeschaut, als ob er ein Butze wäre; falsch Wallner 1908 "sie schauen ihn an,  als seien sie Butzen").

Wenn die vermummten, abgerissenen Gestalten von Bettlern oder Fasnächtlern nur "wie Butzen" aussehen, dürfen wir uns natürlich fragen, was denn diese Butzen eigentlich waren. Wir denken natürlich sofort an alten  Magie-, Gespenster- und Jenseitsglauben, der in Fasnachtsbräuche eingeflossen sein könnte. Die Fasnacht wird nur allzugerne pauschal als "heidnisch" klassiert; ihre traditionelle Form hat sie erst seit dem ausgehenden Mittelalter gefunden. Davor gab es, seit dem 12. Jh., Narrenfeste um Epiphanias (Dreikönigstag). Über dieses Bindeglied mögen hochmittelalterliche, und letztlich frühmittelalterliche, vorchristliche, Masken- und Winterbräuche in die spätmittelalterliche Fasnacht überliefert worden sein. Für die beiden Wörter bögk und butz, die wir nun schon bis mindestens ins Hochmittelalter zurückverfolgt haben, lohnt sich also ein näherer Augenschein.


Drei Perchten (eine Weisse, eine Rote, eine Schwarze) in Steinach
(Karl Haiding, 1960er;
Abb. 57 in Rumpf, Perchten, 1991)


Ein althochdeutscher Vorgänger des mhd. butze ist uns nicht direkt überliefert; erwartet wäre ein puzo oder puzio. Es wurde in Ortsnamen wie Puzinwilari (Bütschwil) gesucht, doch solche Belege wären nicht unterscheidbar von puzi "Pfütze" und Puzo, ein Kurzname für Purchart (Graff 1837); die unklare Herkunft des Namens von Bozen sollte man sich ev. in diesem Zusammenhang einmal neu überlegen (angeblich von einem Bauzanum, Baudianum, von einem sonst völlig unbekannten Namen Baudius).
Dialektal leben beide Wörter ausserhalb des fasnächtlichen Zusammenhangs als Bezeichnungen für missgestaltete, verkrüppelte Wesen sowie für Vogelscheuchen und eben PuppenZürcher Oberland: Strauböögg "Puppe in Mannesgestalt, die beim Ausdreschen von Dem, der die letzten Halme geschnitten hatte, aus dem letzten Gebund Stroh verfertigt wurde. Man stellte sie in den Hof, trieb allerlei Spass mit ihr und verbrannte sie zuletzt in Gegenwart sämmtlicher Arbeiter." (Walter Senn, Charakterbilder schweizerischen Landes, 1870, 116). Das Idiotikon hat in der Bedeutung "Vogelscheuche, Schreckgespenst, Popanz; Puppe" den Bōz (pl. Bōze)  aus Grindelwald und Habkern (Hellenbōz Goms), Bōze (pl. Bōzne) Saastal und Bōzi (pl. Bōzeni, Bōzene) Beatenberg, Habkern, Haslital, Engelberg, Silenen; Bȫzi Engelberg. Ein Zitat aus dem Saastal macht deutlich, dass dasselbe Wort einerseits "lebendige" vermummte, fasnächtliche Gesellen bezeichnet und andererseits auch, die "richtigen", "nicht-lebendigen" Bōzne, also Totengeister, die sich auch (wenn auch seltener als ihre "lebendigen" Abbilder) durch Lärm benerkbar machen:
I weiss nit, ob Alls wār ist, was-mu van-ne Bōzu gizellt hät, aber emāl hei-wer-s fer guet g'hērt. Bōzne git's i Sās nit so vil, we-mu d'lëbendigu nit zellt. 
Grimm berichtet ausserdem zu bōze "Wicht, Zwerg, Kreatur, kümmerliche Gestalt": 
Mhd. knodebōze war ein Ausdruck für einen Verwachsenen, Kleinwüchsigen;  "die hirten nennen eine kurze, dicke geiß boser, boserli". Possel wird ein Ausdruck für einen Kleinknecht, davon Aschenpossel = Aschenputtel.
Būz, Butz in der Bedeutung "kleines, unansehnliches Ding, verkrüppelte Kreatur" (Glarus, Luzern, Solothurn, Basel, Wallis), daraus auch Butz, Butzli als Kosewort für kleine Kinder. Im Appenzell Būzi für "unterentwickelte Frucht (Kartoffel, Rübe usw.)" Aber in Glarus auch "Vermummter an der Fasnacht", und im Simmental Pūzi (statt Bōzi) für "Gespenst". In Nidwalden Bauz, Baiz (auch Bȫlibautsch, Bēlibaiz, im Uri Bauzi, Bäizi) für "Schreckgespenst, Hausgeist".
Hier scheint die Ableitung von bōzen "schlagen" stattzufinden im Sinn von "zusammengestauchter, kleiner Kerl" und damit "Wichtel, kleine Kreatur, unwichtige oder lächerliche Figur" und eben auch "kleiner, lästiger Hausgeist, Kobold" usw. Der Bēlibaiz, sozusagen der Böögg-Bōz, bestätigt erneut das Zusammengehen der beiden Wörter mindestens seit dem Mittelalter. 


Walapauz

Der allerfrüheste Beleg für das bōz-Wort stammt aus dem langobardischen Edictum Rothari (643):
XXXI. De uualapauz: Si quis homini libero uiolentia inuste fecerit, id est uualopaus. octugenta solidus ei conponat. Walapauz est, qui se furtim uestimentum alium induerit, aut se caput latrocinandi animo aut faciem transfigurauerit.
31. Vom Walapauz: Wer einer an einem freien Mann zu unrecht Gewalt ausübt, das ist Walapauz. Ihm werden 80 Schilling auferlegt [d.h. etwa 1.5 kg Silber?]. Walapauz ist, wer sich verstohlen das Kleidung eines anderen anlegt oder räuberischen Gemüts seinen Kopf oder sein Gesicht umgestaltet.
Handschriftliche Varianten des Wortes sind: uualapauz, uualopaus, uualapaoz, gualapauzBruno Schweizer in seiner Langobardentheorie von 1948 (wo er die Theorie vertritt, die sog. Zimbern in Norditalien seien Nachfahren der Langobarden; die communis opinio ging und geht dagegen von einer hochmittelalterlichen Einwanderung aus dem Tirol aus) berichtet dazu von einer "wortkundlichen Entdeckung",
  die ich im Jahre 1942 in den Sieben Gemeinden gemacht habe. Bei der Aufzeichnung von Sagentexten erzählte mir eine Frau von dem Geist eines Verstorbenen, der ihr einmal begegnet sei, und da gebrauchte sie dafür den Ausdruck «Börpoß» (Ton auf dem ö): «Ich habe den Börpoß meiner verstorbenen Mutter gesehen». Sofort sagte ich mir, daß dies nichts anderes sein könne als die Entsprechung des «Walu-paus» oder «Walapauz» im Edictus Rothari 31
Neben Börpoß nennt er Varianten BörbosBölbos, neben BorpotBorbotBorfot. Daneben belbos für "Schmetterling":
Bekanntlich wird ja der Schmetterling vielfach als «Seelentier» angesehen. Darauf weist übrigens die sonst in den zimbrischen Dörfern herrschende Form siràtal (= Schrattel) hin, die auch in oberitalienischen Dialekten vorkommt.
Daneben vermerkt Schweizer, Börpoß könne auch "ein altertümliches graues, um Kopf, Schultern und Brust geschlagenes Kleidungsstück bezeichnen", was umso bessere Übereinstimmung mit der Wortbedeutung im Edictum Rothari ergäbe. 

Was dieses Wort für die Langobardentheorie bedeutet, bleibe einmal dahingestellt. Die Verbindung von Masken bzw. Vermummten mit Totengeistern sollte auch so naheliegend genug sein, im langobardischen  walo-pauz  unseren butz, bauz  "Larve, Maske, Vogelscheuche; Gespenst, Teufel" zu erkennen.  Die Verbindung von wala- zu den in der Schlacht Erschlagenen, und damit zum Totenheer, die wir vielleicht gerne ziehen würden, ist bei genauerem Hinsehen dagegen nicht plausibel. Wir sind von den Eindeutschungen eddaischer Begriffe wie Walvater (valföðr), Walküre (valkyrja) usw. beeinflusst. Das ahd. wal hatte aber die allgemeinere Bedeutung "Wunde, Verletzung, Gemetzel, Mordtat" (lat. vulnus "Wunde", s. Pokorny wel). Ein Walapauz ist daher nichts anderes, als was direkt in der Definition angegeben ist, ein Vermummter (pauz) der zu unrecht Gewalt ausübt (wala). Die Stelle im Edictum Rothari belegt aber, wie das Wort pauz bereits im frühen 7. Jh. seine seither beibehaltene Bedeutung "Vermummte Schreckgestalt" hatte, von der ursprünglichen Etymologie, sei sie "Schlag, Schläger" oder "Klotz, klumpige Kreatur" gelöst. 


Das bestätigt den Eindruck, den wir bereits oben durch die weite Verbreitung genau derselben Bedeutungen im Deutschen und im Angelsächsischen gewonnen haben, nämlich dass die Verwendung dieser Wörter alt sein muss, und spätestens im 5. Jh. im wesentlichen so ausgesehen hat, wie sie sich danach für länger als ein Jahrtausend erhalten hat. Dazu kommt noch die Einsicht, dass die beiden Wörter räumlich getrennt waren, der bögk (puca) im Norden, der butz (pauz) im Süden sein Wesen trieb. Es sei denn, wir wollten Fárbauti, den Vater Lokis, dazustellen: er ist ganz eindeutig ein bozi "Schlager", übersetzt als "Gefahr-Schlager" (fár  "Gefahr, Schaden, Trug"). Er steht aber recht isoliert da. So finden sich manchmal wohl hocharchaische Überbleibsel in der Edda (etwa den uralten Fjörgynn < Perkunos), aber glaubhaft ist hier auch eine Neubildung, etwa als Kenning für "Blitzschlag", die nicht von einem gemeingermanischen Koboldnamen bautjaz herkommen muss.


Die Versuchung besteht, hier das bautjan  "schlagen" mit den Erschlagenen im Wilden Heer zu verbinden, doch es gibt prosaischere Möglichkeiten, "Abgeschlagenes, Stück", "Holzscheit", "stumpfer Gegenstand, Klotz", "Klumpen", und über "Klumpen, Klotz" zu "Beule; Tumor, Geschwür; Pickel" und eben auch (einigermassen respektlos, würde man meinen) "Wicht, Koblod, Hausgeist, Zwerglein" und allgemeiner "Schreckgespenst" und alle niederen Geister und Gelichter die an Fasnacht ihr Unwesen treiben. 


Posse "(Götzen-)Bild"

Bevor wir uns aber zu "heidnischen" Schlüssen hinreissen lassen, soll noch der Vorschlag von De Vries ("Nl. 535"?) zur Sprache kommen: der Vergleich mit Posse. Dies ist zweifellos ein Wort, das direkt mit dem Fasnachtstreiben zu tun hat, heisst es doch so etwas wie "Scherz, Spiel, derber Spass". Früher auch bosse, und manchmal gekürzt boß, botz oder poß, taucht dieses Wort aber erst im späten Mittelalter auf, und seine Herkunft ist genauso unklar oder noch dunkler als die von butz. Eine interessante Möglichkeit wäre Verbindung mit ahd. pōsi "böse", was aber sofort jeden Bezug zu butz verunmöglichte (das germanisch ein t und kein s gehabt haben muss). Wenn wir aber die Posse von einem alten botz ableiten wollen, liesse sich der Bezug zu unserem bōzen, bautjan herstellen: ist eine Posse also buchstäblich ein "Streich"? Aber über possenwerk "überflüssiges Beiwerk, Zierat" kommt man auf eine Bedeutung "Schmuck, Verzierung" und damit genau wie bei Putz auf ein abschätziges "Kram, Zeug, Beiwerk, Schnickschnack" von "Klumpen, Ding". Auch angenommen wird, das Wort sei erst im 15. Jh. wieder aus dem französischen bosse (engl. boss, ital. bozza) "Buckel, Beule, Relief" entlehnt worden, das aber seinerseits aus einem germanischen bautijaz (o.ä., viell. ahd. bōzi)  "Buckel, Beule" stammen würde(?). 

Das ist eine Möglichkeit. Auf eine weitere deutet aber der Gebrauch von Posse im Sinne von "Bildwerk, Figur". Ernstzunehmen ist die Tatsache, dass diese Verwendung am frühesten auftritt. Alle Bedeutungen von "Spiel, Scherz" usw. sind jünger. Im 15. Jh. waren Possenbilder die damals neu in Mode gekommenen Brunnenbilder, und zwar durchaus auch ernsthafte Abbilder von Respektspersonen (Fürsten, Heilige) und (damals sehr ernst genommene) heraldische Tierfiguren:   neben ieglichem wappen und ehrenzeichen waren zween bossen (von den heraldischen Schildhaltern der Kantonswappen, Stumpf 1554), aber auch groteske Figuren auf Gesimsen usw. Eine Bedeutung "Figur, Abbild" passt damit auch gut auf den Fasnachtsnarren, der sich ja vermummt und eine andere Identität annimmt, und die Bedeutung der Narrenpossen lässt sich so auf natürliche Weise anschliessen. 

Grimm deutet ein weiteres Zusammengehen von "Klumpen", "Figur" und "Kobold, Hausgeist" an, wenn er  (284f.) über die sitte des heidenthums, götzen zu schnitzen oder zu teigen spekuliert. 

Im Zusammenhang von bossen "heraldische Schildhalter" im 15. Jh. sollte man unbedingt das Auftauchen der Wilden Männer als Schildhalter in genau dieser Zeit beachten. [Wieso tauchen sie gerade jetzt auf? Sind es klassische Silvani oder stammen sie aus dem Volksglauben? Wie hiessen diese Wilden Männer damals im Volksmund?]

Daneben der Zürcher Isengrind (2.764-766), wohl von isengrim "Eisenmaske" (Meuli, p. 1771), in Horgen ein kinderraubendes Schreckgespenst, aber in der Metzgerzunft der Stadt Zürich ein Löwenkopf, "offenbar in Anlehnung an das Wappentier der Stadt", angeredet mit "bist kein Böögg, Denkmal bist tapfrer Väter Taten" (National-Kinderlieder für die zürchersche Jugend, 1785) wiederholt merkwürdig das Zusammentreffen von "heraldische Figur" und "Schreckgespenst" (gab es hier eine Dissonanz zwischen einer alten, ernsten (ehrfurchtheischenden) Bedeutung von Böögg und einer neuen, abwertenden?).



Herkunft

Aus der Fülle dialektaler Wörter haben sich also zwei synonyme Lexeme herauskristallisiert, die sich allerdings erst nach dem Ende des Mittelalters direkt nebeneinander und als gleichbedeutend zeigen: in ihren mittelhochdeutschen bzw. früh-frühneuhochdeutschen Formen einerseits butz (allerdings auch anders ablautend, boz, bauz) und andererseits bögkDer butz mag althochdeutsch ein puzio gewesen sein, der bögk ein boug

Laistners Idee war es, diesen boug mit dem Verb būgan ("beugen") zu erklären, von einem idg. bheugh  "wegtun, reinigen; befreien, retten; fliehen". Die Semantik ist etwas abenteuerlich, aber lautlich geht alles schön auf, der dt. boug stimmt mit dem engl. bug, und zusammen hätten sie etwas zu tun mit "etwas das fliehen macht" (oder so). Diese Erklärung überzeugt mich nicht, und zwar vor allem aus Gründen der Chronologie. Das engl. bug ist nämlich fast gerade so jung bezeugt wie unser bögk, nämlich im 15. Jh.: so jung, dass gar erwogen wurde, bug könne aus einem walisischen bwg entlehnt worden sein (welches Wort aber selber erst noch später auftaucht, s.o.). Und 'abenteuerliche' Etymologie, die spätmittelalterliche Dialektwörter direkt mit losen indogermanischen Wurzelbedeutungen erklärt ist suspekt: die älteren Sprachstufen müssen hier unbedingt berücksichtigt werden, auch wenn sie die Lage nicht einfacher sondern komplizierter machen. Wie Laistner selber sagt, wird es "besonders schwierig", wenn man den Koboldsnamen Puck, altenglisch puca, berücksichtigt. Dieser puca "bösartiger Geist oder Dämon, Kobold" ist uns aber bekannt aus Glossen, die um die tausend Jahre alt sind, und damit einer unserer ältesten Belege für die ganze Wortsippe überhaupt. Der puca lebt weiter im englischen Landgeist pucca, púcel, der bis in Shakespeares Zeiten die Wälder unsicher macht, und begegnet auch wieder im altnordischen Teufelchen púki (wie irisch púca, walisisch pwca, pwci, beides erst nach 1600, wohl aus dem Englischen). Wie das englische Wort schliesslich gegen 1400 zum bug  (und dann zum bogey, boggart usw.) wurde, ist nicht klar; die walisischen Formen bwg, bwgan, mögen da eine Rolle gespielt haben), aber vielleicht auch wie so oft in dieser Zeit Kontakt mit dem Niederdeutschen? 

Wenn wir also den puca dabeihaben wollen, ist es vorbei mit dem ahd. boug, es müsste eher ein pouc gewesen sein, vielleicht von einem gemeingermanischen pukaz. Der puzio, pouzio dagegen würde ein germ. butjaz, bautjaz wiedergeben. 
Hinter butz und bögk stecken zwei bemerkenswerte germanische Wurzeln, baut und puk. Beide bilden ein Verb, bautjan und pūkan. Hätten diese Verben bis ins Neuhochdeutsche überlebt, hätten sie wohl so etwas wie botzen und pocken ergeben. Im Englischen dagegen überleben sie als die völlig geläufigen to beat "schlagen" und to poke "stochern" (letzteres haben wir aus dem Niederdeutschen auch wieder im Vokabular, als pochen). 

Die germanischen Wurzeln sind deshalb bemerkenswert, weil die in den butz-bögk Wörtern innewohnende Vieldeutigkeit nicht nur bereits in ihnen angelegt ist, sondern in indogermanistischen Wörterbüchern sogar auf ihre Vorgeschichte ausgedehnt wird:

puk hatte eine  Doppelbedeutung von einerseits "pusten; aufblasen, anschwellen" (fauchen) und andererseits "schlagen, stossen, stechen" (pochen ; früher "heulen, tosen, lärmen", homerisch βύκτης vom Heulen des Sturmwinds). Diese Doppelbedeutung wird von Pokorny indogermanisch unter beu-1 und beu-2 behandelt, eine eher künstliche Trennung zweier identisch lautender Wurzeln, denen beiden "schallnachahmender" Ursprung zugeschrieben wird. 

baut hatte  eine   ähnliche Doppelbedeutung(wann?), von Pokorny diesmal unter  beu-1 "aufblasen, schwellen" und  bhau-1 "schlagen, stossen".

Wenn wir als gegeben annehmen, dass es im frühen Germanischen eine Wurzel puk gab, die sowohl "blasen, blähen, schwellen; Geschwulst, Klumpen" als auch "lärmen, schlagen, stechen" heissen konnte, haben wir darin den Ursprung der ganzen verwirrenden Geschichte gefunden.  Im folgenden möchte ich erklären, weshalb ich glaube, dass dieser Ansatz zu einer befriedigenden Gesamtschau der ausufernden Bedeutungsfelder dieser Wörter führt, inklusive "Nasenunrat".


bautjan hiess also "schlagen" und pūkan hiess "stechen" oder "stossen" oder "klopfen". Ein Wesen namens bautjaz wäre also eines, das "schlägt" und eines namens pukaz eines, das "sticht" oder "klopft".  Als Poltergeist also vielleicht ein "Schlager" und ein "Klopfer": "butze bezeichnet einen pochenden, klopfenden Geist" (Grimm p. 289), martialischer oder bedrohlicher aber auch ein "Schläger" und ein "Stecher", die, gar bewaffnet, eine reale Gefahr darstellen.


Von seiner zweiten Bedeutung "aufblasen, anschwellen" bildete puk aber auch Wörter für Geschwulste, Tumore, Blattern usw., etwa unser Pocken, Pickel, Buckel usw. und allgemein für gefüllte, gerundete Gefässe (pocket, bucket). Gleichzeitig bezeichnete baut auch ein "Abgeschlagenes", also einen Klotz oder Klumpen, davon etwa an. bútr "Holzscheit", engl. butt "stumpfes Ende", mhd. butte (in Hagebutte, engl. bud), und davon auch alles klumpenförmige, gerundete, etwa der Beutel oder Pott

Eine Bedeutungsunterscheidung lässt sich noch ausmachen, baut beschreibt eher solide Klötze (wie ein Holzscheit), und puk eher formbare Klumpen (wie ein Geschwulst). Aber durch die doppelte Bedeutungsnähe schlagen-klopfen und Klotz-Klumpen ist an diesem Punkt die Schleuse geöffnet für beliebigen Austausch bzw. Gleichsetzung, auch unabhängig von einer möglichen bereits  vorgermanischen (idg.) verknüpften Vorgeschichte. Ebenso eine Angleichung des Anlauts dt. bok-butz oder bog-butz statt pok-butz ist nun alles andere als erstaunlich, besonders im fasnächtlichen Gebrauch, wo die beiden Wörter direkt und alliterierend nebeneinander stehen, verbutzet und verbögket; in bööggen oder butzen wys.


Der Böölibooz (pouk-pouzio? puka-bautjaz?)


Ob wir hier hinter dem bögk-bauz einen gemeingermanischen, vorchristlichen Spuk, etwa einen puka-bautjaz gefunden haben, ist schwierig zu entscheiden. Mit den Bezeichnungen für Hausgeister und ähnliche Wesen wird in allen Dialekten derart kreativ umgegangen (je nach Geschmack kann man sagen "spielerisch" oder "tabuistisch"), dass die gängigsten Begriffe jeweils nicht sehr alt sind. Hier besteht zumindest die Möglichkeit, dass zwei alte Bezeichnungen für diese Art von Wesen überlebt haben. Auch alt ist  natürlich der Wicht (wiht, vættr, waihts) als etwas vorsichtige Umschreibung, ursprünglich wohl einfach "Sache, Ding" (nichts = ni-êo-wihts "keinerlei Ding"), wenn man das gemeinte Wesen nicht näher bezeichnen konnte oder wollte; dagegen wäre bautjaz bzw. pukaz die unverblümte, ihnen eigene Bezeichnung gewesen, im eigentlichen Sinn ein Vorgänger des "Rumpelstilzchen", rumpele stilt (16. Jh.) ein Name eines Poltergeists (der sich durch rumpeln bemerkbar macht). 

Nun stellt sich noch die Frage nach dem Alter: da wir den puca im Altenglischen antreffen (10. Jh.) und den pauz im Langobardischen (7. Jh.) ist es wohl gerechtfertigt, beide Bezeichnungen als alt anzusehen. Der bögk taucht im Deutschen sicher unabhängig vom Englischen auf, so dass zumindest auf kontinental (also ab etwa dem 6. Jh.) beide Wörter einheimisch sein müssen. Der butz schafft es dagegen nicht bis England, was allenfalls bedeuten könnte, dass der pukaz noch etwas älter oder weiter verbreitet war als der bautjaz, und sich letzterer erst nach der Abwanderung der Angelsachsen  im 5.-6. Jh. aus dem alemannisch-langobardischen Süden auf das mittelhochdeutsche Gebiet im allgemeinen ausbreitete.

Die "Klumpen"-Bedeutung erklärt nicht nur den "Nasenunrat", sie färbte auch ab auf die Eigenschaften der "Schlager" und "Klopfer" Kobolde, ein butz wie ein bögk wurde aufgefasst als "kleiner Klumpen", ein Wichtel, Zwerglein oder eine verwachsene, unförmige, bucklige Gestalt, ein glückliches Zusammentreffen, weil beide Namen nun sowohl das schreckliche Lärmen als auch das das schreckliche Aussehen der Bööggen und Butzen treffend wiedergeben, und dann, spätestens gegen die Entstehung der Fasnacht im ausgehenden Mittelalter, auch ihre eklig verrotzten Nasen.


Hier, denke ich, ist ein lehrreiches Beispiel des verborgenen Zusammenspiels von Sprache und Mythologie, es ist unmöglich zu sagen, ob der Mythos von der Wortbedeutung mitgeformt wurde, oder aber die Wortbedeutung vom Mythos: beides hat über ein Jahrtausend ineinander gegriffen in der Vorstellungswelt insbesondere von kleinen Kindern, die gleichzeitig mit ihrer Sprache und ihrer Sagenwelt vertraut wurden (und wohl rein anthropologisch-altersbedingt gleichzeitig auch ein starkes Interesse an Nasenschleim haben mussten?). Mythologie und Sprache fliessen gemeinsam aus einer vorsprachlichen, vorbewussten Tiefe, die ich als den eigentlichen (sprachlosen, unformulierten) Mythos anschaue, auf dem die Welt als ganzes fusst (oder was man vermutlich jungianisch gesprochen als Sphäre der Archetypen bezeichnen müsste, mit dem Zusatz, dass eben nicht nur die Vorstellungswelt sondern dazu parallel (und nicht sekundär oder indirekt) auch die Sprache davon geformt wird).






andere verwandte Wörter

(noch zu berücksichtigen)


Englisch dialektal bodger, bodge, zu botch, mengl. bocchen "flicken, reparieren" OED: "etymology uncertain" (angelsächsisch oder aus dem Niederdt.?)


Daneben botch "Geschwulst", diese Form aus afrz. boche, boce, woraus auch engl. boss.
Dieses romanische bosse, bozza (woraus auch dt. posse rückentlehnt worden sein soll) ist auch fast unglaublich produktiv und narrt die Romanisten (Praeromanica 292-297).




Aber Michael Quinion weiss mehr zu bodger,  

Many people have written to say that they know a bodger as a pointed instrument for various purposes. For example Doug Dew wrote: “From my childhood in Surrey, I have a vague memory of the use of the word bodger to mean a blunt stick or tool used to make holes in the ground for seeds”. Alan Harrison added: “Bodge is certainly in use in Black Country dialect for poking or making a hole. I have heard my father use bodger of an instrument used to make holes, as for example when making an extra hole in a belt when the wearer has gained or lost weight”.  [...] It seems extremely likely that this is a variant of podger, recorded from the nineteenth century in various engineering contexts. Indeed, several subscribers wrote to say that they knew of pointed instruments under this name. It is said to derived from podge or pudge for something short, fat or thick-set.
aber podge und pudge sind auch erst 19. Jh. OED verbindet pug "Zwerg, Wichtel; Kosename":


Perhaps compare Dutch regional (West Flemish) pugge (adjective) small, (noun) person of small stature; also used as a pet name, substituting for a person's forename (as Pugge).  (...)  probably influenced semantically by puck  (although it seems unlikely that it shows a phonological variant of that word); at least in the earliest uses in this sense, the semantic feature ‘small’ seems to be prominent (...) The graphic resemblance of Dutch putger (variant of putjer ship's boy, sailor of the lowest rank) [... 1598] is probably purely coincidental.
Ein bodger "spitziges Werkzeug" von einem bodge "perforieren, durchstechen" geht zusammen mit dem Dialektwort booggen (Brienz), pooggen (Haslital) mit der Bedeutung "mit den Hörnern stechen" (aggressives Verhalten von Hornvieh).


pudding entweder  von frz. boudin "Wurst" (13. Jh.) [Romance base *bod- denoting bulging, swollen objects, which is of imitative origin] oder aber zu aengl. puduc "Geschwulst", 
 English regional (southern) poud boil, ulcer (...) Dutch regional poddik thick soft mass, kind of pudding, shortish child, short fat person,  Middle Low German puddich (rare) fat, corpulent (German regional (Low German: Bremen) puddig thick, stumpy), German regional (Low German: Bremen) pudde- (in pudde-wurst large sausage, especially black pudding, also (fig.) fat person), (Westphalia) puddek dumpling, sausage, (Mecklenburg) pūden boil, ulcer, swollen body part, (Berlin, Brandenburg) puddel small person, small fat child, especially a child just beginning to walk, (Pomerania) puddik swollen gland. However, in spite of their phonological and semantic similarities, it is unclear whether any of these words are etymologically related, and, with the exception of puduc, they are all first attested much later (in a number of cases very much later).
box:  
perhaps related to  Germanic *boki- , whence Middle Dutch bōkeböke, early modern Dutch beuk, Middle High German buc blow, stroke, Middle Dutch bōken, Middle High German bochen to strike, slap; but in this case the formation remains unexplained. 
pod, pud, pout

buezen, büezen aus bōttjanbuessen, büessen "ausbessern, heilen; büssen" aus bōtjan.
bautschen, pautschen, botschen  

Buggel, Puggel "Beule, Buckel", Büggel, Püggel "Pickel"


Bossel "Kugel"  
pōz "Stoss" (Amboss)