Dienstag, 26. Juni 2012

Silber-Himmel Erchan-Zîu

Die Sprache ist unser direktestes Tor in die geschichtliche und frühgeschichtliche Vergangenheit (sagen wir, 100 bis 5000 Jahre zurück), so wie Menschengedächtnis und lebendige Tradition unser   Zugang zu neuerer Geschichte (10 bis 500 Jahre), und unsere Gestalt und Erbgut Zeuge der anthropologischen Frühgeschichte (1000 bis 50000 Jahre) sind. Aus der heute lebendigen Sprache lässt sich viel ableiten über Kulturen, Lebensumstände und Weltanschauungen vor 2000 oder 3000 Jahren, in einer Zeit und Weltgegend, die nie von einem antiken Ethnographen beschrieben wurde, und aus der wir sonst bloss die stummen Befunde der Archäologie besässen.  Nudel und Brezel weisen ins Mittelalter, Milch und Brot in die Eisenzeit, der Met und auch der Anken in die früheste Bronzezeit und das Wasser tief in die Jungsteinzeit. 


Manche Wörter verblassen, verschwinden unbemerkt aus dem täglichen Gebrauch, sie blieben vielleicht noch lange in seltener oder abgelegener Bedeutung ein Teil des Wortschatzes, und eines Tages sind sie bloss noch ein Eigenname, der unerklärt dasteht, aber als solcher erst recht unverändert weitergegeben wird. Irgendwann, nach vielen Jahrhunderten, sterben sie vielleicht ganz. Um solche versteinerten oder sterbenden Wörter wiederzufinden, brauchte es einen Jacob Grimm, der in den 1830ern die Ens in den bairischen Dachbalken aufspürte, und aus diversen Trümmern die Elbe (Älbe, "Elb, m. genius habe ich statt des unhochdeutschen elf hergestellt"). 


Solche fast ganz verlorenen Wörter üben auf mich eine ganz besondere Anziehung aus. Sie sind lebendige Zeugen aus ferner Zeit, wie ein uralter Baum, der vielleicht fast nur noch totes Holz ist, aber im Frühling an unerwarteter Stelle doch noch ein oder zwei frische Blätter hervorbringt. Diese Wörter bezeichneten einst Wichtiges, das dann mit dem Wandel der Geschichte vergessen ging, und sie mussten sich entweder in Dialekte oder  Fachvokabular zurückziehen, oder sie versteinerten in Orts- oder Personennamen, oder aber sie dienten als Allerweltswort, das täglich im Mund geführt wird, aber seinen alten Sinn verloren hat (wie etwa das Ding, wohl noch eher der Kern und Ursprung der westlichen Demokratie als was aus Athen oder Rom kam; oder das Hilfswerb sollen, das einmal  schicksalhafte Notwendigkeit oder schreckliche Verpflichtung ausdrückte).

Ein solches Wort, das wir heute fast ganz verloren haben, ist erch. Wie die Ens oder auch die Älbe gehörte es einmal in die höchste Sphäre mythologischer oder sogar religiöser Weltanschauung. Es mag sein, dass es diese Stellung durch die Christianisierung verlor, das ist aber keineswegs zwingend. Es lebte nämlich noch Jahrhunderte weiter, sogar in der Bibel selbst, wo David, der egregius psaltes  ("der beste Sänger") als der erchano sangheri eingedeutscht wurde, und certa lege ("nach [Gottes] gewissem Gesetz", Proverbia 8:27) als ercna euua (später kiuuissero eo, "nach gewisser Ee"). Diesem Adjektiv hing also kaum ein "heidnisches" Makel an, und es bezeichnete hier was Luther als das Ziel der göttlichen Schöpfung ausdrückte. Es war aber ein Adjektiv für besondere Fälle: benutzt für David, für Gottes Gesetz, und ausserdem noch für Superlative in der aristotelischen Philosophie (speciem specialissimam allero specierum erchenosta). Übersetzen würde man es vielleicht mit "echt, wahr". Aus dem  Gotischen haben wir ein unaírkns "unheilig, unrein, gottlos" (ἀνόσιος, in 1. Tim 1:9 unairknaim jah usweihaim, Luther: "den Unheiligen und Ungeistlichen"). Daraus dürfen wir schliessen, dass es einmal ein gotisches Wort aírkns gab, das ὅσιος übersetzt hätte, was soviel heisst wie "heilig, fromm,  [kultisch] rein". 


Ich vermute deshalb, dass dieses erch ein sehr altes germanisches Wort ist, das eine Bedeutung aus der religiösen Sphäre hatte, etwa "wahr, echt; rein, heilig". Ins Hochmittelalter hat es nur überlebt als Bestandteil von Personennamen wie Erchantrud, Erkenbrecht usw., und auch diese Namen verschwinden vor dem Ende des Mittelalters ganz (bis auf Erchanbald, das in Anlehnung an das Archi- in griechischen Namen zu Archibald wird). Aber Grimm führt ein Erchtag an als eine altheidnische benennung des dies Martis, die zu seiner Zeit noch als in Baiern üblich gelten konnte:
Unser Zîstig hiess bei den Baiern einmal Erchtag.

Es ist ja so, dass der südgermanische Wodan tatsächlich von der frühmittelalterlichen Kirche verteufelt und tabuisiert wurde: den Mittwoch kann man als aktiven Versuch deuten, den Namen dieses Gottes ganz zu tilgen. Dagegen scheinen die anderen Götter nicht aktiv bekämpft worden zu sein, sondern sie wurden einfach ihrem Schicksal, nämlich dem Verblassen und Vergessen, überlassen. So ist der Dienstag nicht etwa eine tabuisierende Ersetzung, sondern einfach eine volksetymologische Verunstaltung des Dingstag, wie auch Zinstag, beides frühmoderne Ersetzungen der nicht mehr verstandenen Elemente dings und zis. Noch mittelhochdeutsch war zistag gang und gäbe, und in der Schweiz hat sich der Zîstig ja bis heute erhalten. Nichts spricht also dagegen, dass auch das baierische Erchtag den Namen des Mars Thingsus, d.i. des Zîu, fortsetzen kann. 


Grimm zieht dann auch aus seinem Fund die schwerwiegendsten Schlüsse. In der ersten Ausgabe seiner Mythologie von 1835 (p. 134) identifiziert er ein  Er, Eor, Ir als alten Beinamen von Zîu, und assoziiert sofort die angelsächsische Rune  Ear, die nichts anderes sei als eine Variante der Tiw-Rune . Hier ist Grimm noch der Meinung, auf die poetische auslegung dieser Rune im angelsächsischen Runengedicht sei gar nichts zu geben  und behauptet die Angelsachsen hätten dieses Zeichen aus hochdeutschen alphabeten entlehnt, wo sie das neue Phonem z /t͡s/ bezeichnet habe. Nun ist im sogenannten "Markomannischen Alphabet" des Hrabanus Maurus tatsächlich neben dem Zeichen   tac auch ᛠ ziu vertreten. Das Alphabet von Hrabanus ist eine Mischung aus angelsächsischen und skandinavischen Runen mit der Absicht, das lateinische Alphabet nachzubilden. Dass der Buchstabe z ausgerechnet mit ziu benannt wird ist schon sehr suggestiv, aber trotzdem ist dieses Alphabet das Produkt eines karolingischen Gelehrten, dem die angelsächsische Runenschrift bestens bekannt war, und nichts erlaubt uns anzunehmen, hier einen Ausdruck eines alten (vorchristlichen) "hochdeutschen" Runenalphabets zu vermuten, das den Lautwandel tiu zu ziu nachzubilden versucht hätte, ähnlich wie angelsächsisch ᚩ ós für das ältere ᚨ ans einspringt


Noch viel gewagtere Schlüsse zieht Grimm in der zweiten Ausgabe der Mythologie von 1844 (p. 182):
Wie Zio dem Zeus als lenker der kriege identisch war, sehen wir auf den ersten blick, dass dieser Eor, Ear mit Ἄρης Zeus sohne zusammenfällt, udn weil Wotan bei den Deutschen des Zeus rang einnimmt, erscheint auch Tyr, folglich Eor als des höchsten Gottes Sohn.
und nun, im Gegensatz zu 1835, wird die Beschreibung der Rune im angelsächsischen Gedicht als aussagekräftig herangezogen, 



 [ear]  byþ egle eorla gehwylcum / ðonne fæstlice flæsc onginneþ / hraw colian, hrusan ceosan / blac to gebeddan; bleda gedreosaþ / wynna gewitaþ, wera geswicaþ.

 [ear] ist ekel für jeglichen Krieger, wenn das Fleisch fest beginnt, als Leiche zu kühlen und blass die Erde als Bettgenossin zu wählen; Atem endet, Freude vergeht, Treue schwindet. 
Dies wird nun auf den "würgenden Schlachtgott" bezogen, den Krieg wie ihn Ares repräsentiert, der keinen Sieg oder Ruhm mehr einbringt, sondern nur noch Tod und Untergang. Sollte sich das wirklich auf Eor-Zîu in seiner Rolle als Kriegsgott beziehen, was für ein Kontrast wäre das zum leuchtenden Himmels- und Gerechtigkeitsgott. Man müsste wohl annehmen, hier werde noch eine ganz alte, dunkle Seite des urgermanischen Hauptgottes Teiwaz reflektiert, die er später an den wichtiger werdenden Wodanaz abtrat. Grimm geht aber noch weiter, nicht genug, dass der Name Eor neben Ἄρης gestellt wird, Ἄρης lasse sich zudem neben ἄορ "Schwert" stellen, so dass Ares wie Eor-Ziu als ein Schwertgott wie auch also ein Schlachtgott in Erscheinung trete.

Bei allem Respekt vor Grimm, ich glaube, dass er sich hier zu einem Missgriff hat verleiten lassen, wie er sonst nur Philologen von weit geringerem Rang unterläuft, nämlich die Verlockung der Anklangs-Etymologie: Allzu stimmig war das Bild, das sich durch den Vergleich mit Ares ergab. Diese ganze Theorie ist hinfällig, wenn man ernst nimmt, dass der baierische Name des Dienstag eben Erchtag, erctac ist (wie derselbe Jacob Grimm in seinem Wörterbuch notiert) und ertag, irtag usw. nur Verschleifungen davon darstellen. Wenn wir hier also einen alten Beinamen oder Titel des Ziu gefunden haben, dann ist das Erch und nicht Eor. Erch-Zîu ist "der wahre, echte Ziu", oder wenn man will "der wahre, echte Gott". Das ist aufschlussreich, wenn man bedenkt, dass altnordisch týr ja ganz allgemein "Gott" heissen kann und nur nebenbei auch als Eigenname Týr (Zîu) erscheint. Das dahinterstehende urgerm. teiwaz entspricht etymologisch auch nicht genau dem idg. Himmelsgott Diēus (griechisch Ζεύς, indisch Dyaus), wie das oft verkürzt dargestellt wird (aus Diēus hätten wir statt einen Zîu wohl einen Zau), sondern eben "nur" dem idg. deiwos (lat. deus, altind. deva), dem Wort für "die Hellen, Leuchtenden", das sind die himmlischen Götter (im Gegensatz zu den chthonischen). Der alte Himmelsgott ist auch einer dieser Himmlischen, aber eben nicht irgendeiner, sondern der vorderste, wichtigste, eigentliche, althochdeutsch also eben der Erchan-Ziu. So interessant es ist, dass Hrabanus den Namen ziu für seine "Z-Rune" gewählt hat, die angelsächsische Rune ear hat damit nichts zu tun. Die zitierte Strophe aus dem Runengedicht beschreibt ja auch nicht einen gewaltsamen Tod im Krieg, sondern einfach die traurige und unerbittliche Realität der Sterblichkeit. Der Name Ear ist wohl das sehr archaische Wurzelnomen, aus dem der Name der Erde abgeleitet ist, angelsächsisch manchmal noch als eor- überliefert, und als ahd. ero im Wessobrunner Gebet, 
Dat ero ni uuas noh ufhimil   "Als weder Erde war noch Himmel oben"
(die germanische Bezeichnung erō, erweitert zu erþō, findet man sonst nur noch in ἔρα, einem griech. Wort für "Erde"), im Runengedicht also die kalte, nasse, dunkle Erde als Grab.

Also hat dieses  erch "wahr, echt, heilig" mit Schöpfung und Himmelsgott zu tun, aber nichts mit der Erde? Einen seiner seltenen Belege habe ich noch aufgespart, am Anfang des altenglischen Feld-Zaubers Æcerbot ("Ackerbusse"), 
 erce erce erce eorþan módor 
also etwa "Echte, Echte, Echte, Erdenmutter!" (d.i. "Mutter der Erde" und nicht etwa "Mutter Erde"), die Anrufung einer für die Fruchtbarkeit der Erde zuständige Göttin, die als "die Echte" gilt so wie Ziu als "der Echte". Auch dies ist Grimm nicht entgangen (p. 154, unter Nerthus).  Wenn aber einmal neben Erchaz Teiwaz dem "Echten Gott" eine Erchō Teiwō "Echte Göttin" stand, dann denke ich dabei  an Zisa (Cisa), die "Schwaben-Isis", eine nur noch vermutete Ehefrau des Ziu, die ihren Namen von dem ihres Gemahls ableitet, so wie neben dem (dodonischen) Zeus eine Dione stand. 

Aus dem oben Dargelegten wird, denke ich, eindrücklich, dass das verlorene Adjektiv erch einmal eine tiefe, fast theologische oder ontologische Bedeutung hatte. Das an seine Stelle getretene echt ist noch jung (Luther kennt es nicht), scheinbar im 16. Jh. geformt als eine niederländische Form von ēhaft "rechtmässig".

Bei der Frage nach der Herkunft und ursprünglichen Bedeutung dieses erch hilft uns ein letzter Beleg, nämlich der altenglische eorcnan-stan "Edelstein". Am ehesten kommt das Wort nämlich aus der idg. Wurzel arǵ, die soviel bedeutete wie "weiss; glitzern, leuchten". Weil es erch und nicht arch heisst, gilt diese Erklärung aber als unsicher: Allenfalls wurde auch noch eine Vermischung dieser Wurzel mit einer anderen, die im Sanskrit arc "lobpreisen, verehren" ergab, vermutet (Pokorny pp. 64f., 340; erst recht landen wir bei so einer Vermischung bei einer sehr sakralen Bedeutung).


In vielen Sprachen wurde von arǵ das Wort für Silber gebildet (lat. argentum). Der Edelstein ist so nicht nur der "echte Stein, der Stein par excellence", sondern eben auch wörtlich der "glitzernde Stein". Genauso ist Ziu als der Hauptgott nicht nur der "echte Gott, der Gott par excellence", sondern als Himmelsgott auch der "helle, leuchtende Gott". 

Silber und Gold gehören zu den ersten Metallen, die dem Neolithikum zugänglich wurden. In der Varna-Kultur wohl bereits um die Zeit vor 7000 Jahren. Bis dahin war keine vergleichbare irdische Substanz bekannt gewesen, und der Glanz der Edelmetalle wurde wohl ganz mit dem Glanz der Gestirne gleichgesetzt (wie wir ja auch ganz ungezwungen die Sonne als golden und den Mond als silbern beschreiben). Die Indogermanen benannten die beiden Metalle nach zwei Arten des "Leuchtens", arǵ-, das helle, lebendige Glitzern in der Sonne, und aus-, das majestätische Leuchten der Morgenröte (lateinisch wurde daraus argentum "Silber" und aurum "Gold"). Die Germanen haben beide Metalle umbenannt, Silber ist unbekannter Herkunft (manchmal wird, mehr aus Verlegenheit, assyrischer Ursprung behauptet), und Gold ist das "gelbe" oder "glühende" Metall. Das alte Wort für das "goldene" Leuchten des Zwielichts bleibt uns vertraut im Namen der Oster (und im Osten, wo dieses Leuchten sichtbar wird). Das alte Wort für das "silberne" Leuchten des hellen Tags dagegen hatte ich verloren geglaubt, bis ich es in erch, dem alten Wort für alles, was den Tag- Himmels-, Gerichts- und Hauptgott betrifft, wiedergefunden habe.