Samstag, 28. Januar 2012

Die Zwölf

Ein Bund von zwölf Hauptgöttern wird in der griechischen Antike angenommen, mindestens seit dem 6. Jh. v. Chr. Die Vorstellung ist dabei nicht, dass es genau zwölf Götter "gibt", sondern dass in einem unüberblickbaren und unklar abgegrenzten Pantheon genau zwölf göttliche Wesen oder Mächte sich miteinander verbünden, und kraft ihres Bundes die oberste Hierarchiestufe besetzen.
Je nach Verwendung des Begriffs eines "Gottes" könne man auch sagen, dass erst die Mitgliedschaft in diesem Bund einen Gott zu einem Gott macht, im Gegensatz etwa zu Halbgöttern oder Heroen. In diesem polytheistischen Gottesbegriff ist also "Gott" eher ein Rang als eine ontologische Wesensbezeichnung. Die Errichtung des Bundes der Zwölfgötter entspricht der Errichtung der gegenwärtigen Weltordnung. Beides hat nicht schon immer bestanden, sondern beendete eine frühere, urzeitliche Epoche. Vielleicht ist es sogar die Existenz dieses Zwölferbundes, was die Existenz eines Kosmos, einer geordneten Welt, garantiert. Die Verteilung der "Sitze" in diesem Bund und die hierarchischen Verhältnisse unter den Zwölfen mag im Verlauf der Jahrhunderte wechseln, und markiert vielleicht historische Epochen. Erst das Zerbrechen des Bundes an sich wäre eine eschatologische Katastrophe, ein Weltuntergang.

Die Existenz dieses Bundes der zwölf Götter war über Jahrhunderte ein wichtiges Element des antiken Polytheismus. Dabei war es aber nie entscheidend, welche zwölf Mitglieder der Bund genau hatte: seine Zusammensetzung scheint weniger wichtig gewesen zu sein, als die Tatsache, dass er überhaupt existiert. Und so oder so hielten sich im direkten Umkreis der Zwölfgötter noch andere, annähernd so mächtige Göttergestalten auf. Klar ist jedenfalls, dass sich die Zwölf zusammensetzen aus sechs männlichen Göttern und sechs Göttinnen. Diese "Frauenquote" ist vielleicht den Griechen zu verdanken. Darstellungen von zwölf (männlichen) Göttern findet man in Anatolien. Man darf gerne vermuten, dass die Zahl Zwölf mit den Zwölf Monaten in Verbindung steht, aber eine Ableitung von den Tierkreiszeichen wäre ein Anachronismus: die zwölf Tierkreiszeichen werden erst im 7. Jh. v. Chr. überhaupt von den Babyloniern konstruiert. Wenn überhaupt ein Zusammenhang besteht, schöpft dieses astrologische System aus einer gemeinsamen Quelle, steht aber zeitlich nicht vor den Zwölfgöttern.

Die Römer haben diese Anordnung spätestens im 3. Jh. v. Chr. übernommen, unter dem Begriff der Dii consentes. Seit dieser Zeit wurden die römischen Vorstellungen der Götter völlig gräzisiert, und abgesehen von etymologischen Betrachtungen zu den Götternamen lässt sich kaum mehr eine einheimische italische Tradition unterscheiden.

Die Zwölf Olympier

In dieser Zeit des griechisch-römischen Polytheismus, die letzte Phase vor dem "New Age Boom" des Hellenismus und der Spätantike, setzt sich der Zwölferbund so zusammen:
Zeus (Jupiter) und Hera (Juno),
Poseidon (Neptun) und Demeter (Ceres)
Athene (Minerva) und Apollo,
Hermes (Merkur), Artemis (Diana),
Hephaistos (Vulkan) und Aphrodite (Venus),
Ares (Mars) und Hestia (Vesta).
Vielleicht lässt sich diese Gruppe etwa so charakterisieren,

  • Das Hohe Paar, das den anderen zehn vorsteht, unbestrittenes Oberhaupt dabei Zeus, dessen Sphäre der Himmel ist. Daneben die Königin und Matrone als Oberhäuptin der Göttinnen
  • Neben dem himmlischen ein chthonisches Paar, Herr und Herrin der Erde (und ihrer Gewässer)
  • Weisheit und Kunst, in jugendlicher Reife
  • Hermes als schneller Bote verbindet die Welten der Götter, der Menschen und der Toten. Artemis als Hüterin von allem, was wild und unschuldig ist.
  • der Gegensatz zur Unschuld, in männlicher Ausprägung der chthonische Technokrat, in weiblicher die voll erblühte Wollust
  • Der totale Krieg (im Gegensatz zum strategischen Feldzug, der eher Athena zukommt), und daneben die staatliche und sittliche Ordnung.
Das Hohe Paar umfasst und vertritt gleichsam die ganze Zwölfergruppe, und es lässt sich nicht auf "Funktionen" reduzieren. Die anderen zehn lassen sich einfacher Bereichen zuordnen, also chthonische Naturgottheiten, dann transzendente, sozusagen "platonische" Götter der geistigen Welt (aber weil Geist auch Licht ist trotzdem an die Sonne, also Natur, gebunden). Dann ebenso transzendent die Vertreter der jenseitigen, nicht- oder vormenschlichen Realitäten. Die letzten vier schliesslich fast ganz auf die menschliche Sphäre bezogen, mit Hephaistos der "faustische" Drang, sich die Elemente dienbar zu machen, mit Aphrodite die ebenso gefährliche Sexualität. Und schliesslich die Kräfte, die das menschliche Kollektiv bestimmen, der Abgrund des Kriegs, als Gefahr und gleichzeitig Ursprung und Neuanfang verstanden, und daneben die soziale Ordnung von Staat und Sippe, verkörpert durch den Herd.
Eine Gesamtschau dieser klassischen Zwölfgötter lohnt sich, macht deutlich dass das nicht einfach eine zufällige Zusammenstellung eines dahergelaufenen Schreibers ist, sondern dass hier Jahrhunderte an mythologischer und theologischer Spekulation einer Hochkultur eingeflossen ist. Trotzdem war diese Aufzählung nie gefestigt. Noch Herodot hatte die alten Gätter Kronos und Rhea statt Hephaistos und Aphrodite, Alpheus statt Ares, und Demeter, Artemis und Hestia wurden durch die drei Charites (=Grazien) vertreten. Auch gab es immer wichtige Götter ausserhalb der Zwölf. Hermes als Geleiter in die Unterwelt gehörte dazu, aber Hades als ihr Herrscher steht abseits. Daneben war Dionysus, der Gott der Mysten, seit eh und je einer der wichtigsten Götter überhaupt, aber er stand abseits, wohl gar in intimem Kontakt mit dem Initiierten, und wurde wohl darum wohl lange als ausserhalb des eher entrückten Götterrats gesehen. Schliesslich fand er aber doch darin Aufnahme, und angeblich war es Hestia, die daraufhin aus freien Stücken aus dem Rat zurücktrat, um die überzählige, ungünstige Dreizehnzahl zu vermeiden.

Schliesslich, im 2. oder 3. Jahrhundert, verblasste der Einfluss der Zwölfgötter zur blossen Konvention, kaum mehr wirklicher als irgendwelche Putten oder Musen, die wir an einer Opernhausdecke wahrnehmen, und die Mode wendete sich neuen orientalischen Kulten zu, der Gnosis, der Isis, dem Mithras, und endlich natürlich auch dem Christus. Woher diese Modeströmung (ich nenne es den antiken "New Age Boom") kam, und welche Rolle der schelmische Dionysos dabei spielte, darüber gäbe es viel zu sagen, das ist hier aber nicht das Thema.


Die Zwölf Änse

Jacob Grimm stellte fest, dass die griechisch-römischen Zwölfgötter eine frappierende Parallele in der germanischen Tradition besitzen. Genau wie die olympischen Götter bilden die nordischen æsir einen Bund, werden in der Edda danach kollektiv als bönd bezeichnet. Mehrfach ist auch überliefert, die Zahl der æsir sei Zwölf; so wird in der Gylfaginning diese Zahl genannt, Tólf eru æsir goðkunnigir, unmittelbar darauf werden allerdings dreizehn männliche Götter aufgezählt, nicht eingeschlossen Loki, der ausdrücklich aus der Zahl der æsir ausgenommen wird, und anschliessend vierzehn Göttinnen.
Nach diesem Zeugnis gehören zu den männlichen æsir: Odin, Thor, Balder, Njord, Freyr, Tyr, Bragi, Heimdall, Hoder, Vidar, Ale, Ullr, Forseti.  Die vierzehn weiblichen ásynjur sind Frigg, Saga, Eir, Gefjun, Fulla, Freyja, Sjöfn, Lofn, Var, Vör, Syn, Hlin, Snotra, Gna.
Hier wird meiner Meinung nach der skaldische, enzyklopädische Charakter der Prosa-Edda besonders deutlich. Wenn der Kompilator schon einmal dabei ist, eine Liste von Göttern zu geben, kann er sich eben nicht bremsen bevor die Liste komplett ist. 



Moderne Autoren haben, natürlich in voller Kenntnis der eddaischen und der klassischen Tradition, ihrerseits mythologische oder literarische zwölfzählige "Panthea" konstruiert. Tatsächlich ist die Versuchung gross, Ordnung in die obigen Listen bringen zu wollen, und die "ursprüngliche" oder "richtige" Aufzählung der Zwölfgötter zurückzugewinnen. Besonders die Liste aus der Gylfaginning, offensichtlich eine skaldische "Aufblähung" nachdem unmittelbar zuvor klipp und klar gesagt wurde "es gibt zwölf Asen" verlockt zu solchen Eingriffen. Aber es darf nicht vergessen gehen, dass auch in der antiken griechischen Überlieferung niemals Einigkeit darüber geherrscht hat, welche zwölf Götter nun zu diesem Bund gehören. Es wurde in der Tradition offenbar intuitiv als "wahr" erkannt, dass aus einer grösseren Zahl von göttlichen oder übermenschlichen Wesen eine Zwölfzahl sich verbündet hat und über alle anderen regiert, und ebenso dass innerhalb dieses Bundes eine Hierarchie herrscht, an deren Spitze ein Hauptgott und eine Hauptgöttin stehen. Ob die germanische Tradition direkt aus der römischen (und damit indirekt der griechischen) schöpft, oder ob sie auf eine ältere gemeinsame Vorstufe zurückgeht wird man nicht sicher sagen können. Aber dass das Bild der zwölf Asen als fascies-ählicher Bund der die geltende Weltordnung garantiert reale mythologische Wirksamkeit hatte, im Alltag und ausserhalb von Skalden-Handbüchern Bestand hatte, wird meiner Meinung nach dadurch verbürgt, dass das deutsche Wort ans, Mehrzahl ens, dialektal in der Bedeutung von "Fassdauben" überlebte (Althochdeutsch hätte man gesagt ansu, Mehrzahl ensi). Dieses bairische Dialektwort, von Grimm noch in den 1830ern registriert aber heute wohl kaum mehr sprachwirksam, nähme im Standarddeutschen wohl die Form "der Ans", Mehrzahl "die Äns(e)" an, Femininum "die Änsin". D.h., das Wort verhält sich wie "Gans" als Maskulinum. Altenglisch war ōs, Mehrzahl ēse, auch daraus wäre wohl modern oose, Mehrzahl eese geworden, genau wie goose, geese.  Dieses einst wichtige Wort ist aber englisch wie deutsch ganz und gar ausgestorben, ausser eben in Baiern und im Tirol als altes Wort für Fassdauben oder Dachbalken. Erst durch die Wagnerianischen Asen kam dieses Wort, als Import aus der Edda, wieder in unsere Sprache. Aber was für eine Kluft zwischen den Asen, die in Bass und Tenor auf der Bayreuther Bühne deklamieren zu den ens, die in bairischen und tirolischen Dörfern gar nie aufgehört hatten, das Dach zu tragen und das Bier zu fassen. 


Die alten ensi, als unpersönliche, spirituelle Mächte vorgestellt, bildeten das kosmische Gerüst, dass die Welt stabilisierte, oder überhaupt erst definierte. Wie zwölf Fassdauben ein Fass wären in diesem abstrakten, kosmologischen Bild die einzelnen Glieder des Bundes nebeneinander gleichberechtigt, und bilden eben auch ein kosmisches Ganzes, nämlich einen Monismus, wie man ihn auch in der indischen und der griechischen Antike findet.  Im Mythos werden aber die zwölf Elemente in diesem Bund charakterisiert, sie bekommen ein Geschlecht und eine Persönlichkeit, und damit auch eine hierarchische Beziehung untereinander. Umgekehrt könnte man es auch so beschreiben, dass aus der unüberblickbaren Zahl von gottähnlichen Gestalten im Mythos für zwölf die Möglichkeit besteht, sich zu verbünden und zusammen eine höhere, kosmische Rolle einzunehmen, und damit zu Göttern im engeren, exklusiveren Sinn zu werden. 

Für das menschliche Bedürfnis, ein Pantheon zu ordnen, und zu einzelnen Göttern in einen gedanklichen oder vielleicht sogar vertragsmässigen Bezug zu treten eröffnet dieser Bund der Zwölf eine Möglichkeit des Zugangs. Welche zwölf Götter den engeren Bund der ens bilden wird dabei von den Eigenheiten und der Geschichte des jeweiligen Volkes abhängen. Wohl universell ist die Erkenntnis, dass der Bund angeführt wird von einem Paar aus einem männlichen Gott und einer Göttin. 


Moderne Zwölfgötter

Ein modernen Mythopoet, die sich berufen fühlte, diesen Zwölferbund frisch zu beschreiben, war Tolkien. Seit der postumen Herausgabe seiner mythologischen Konzepte durch seinen Sohn 1977 ist das allgemein bekannt, ja sogar Pop-Kultur. Weniger geläufig ist Friedrich Hielscher, der gleichzeitig und völlig unabhängig von Tolkien genau dasselbe tat. Beide taten das in der Mitte des 20. Jh., während und nach des Zweiten Weltkriegs. Beide beschreiben ein Pantheon aus zwölf göttlichen Wesen, sechs männlich und sechs weiblich, die als Boten und Stellvertreter eines Einen, monotheistischen Gottes agieren. Bei beiden wird dieser Zwölferbund angeführt und präsidiert von einem hohen Paar. Hielscher nennt sie germanisch, Wode und Frigga. 


Tolkien nennt sein höchstes Paar Manwē und Varda. Oder besser gesagt, er "entdeckte" diese Namen, und da er aus linguistischen Urtiefen schöpfte, erschlossen sich aus diesen Namen ihre Etymologie, und damit ihre Mythologie und Bedeutung. Es stellte sich schliesslich (um etwa 1960) heraus, dass Manwe eine Entlehnung aus einem urspünglichen Mânawenûz war, dem Namen des Hochgottes in der eigentlichen Sprache der Götter, während Varda ein Titel mit der Bedeutung "die Erhabene" war, übersetzt aus ihrem (unbekannten) originären Namen. Ob die Götter überhaupt eine eigene Sprache haben, war für Tolkien eine schwierige Frage. Er entschied sich schliesslich dafür, dass ihre Sprache eine notwendige Folge ihrer Körperlichkeit sei ("the making of lambe [Language] is the chief character of an Incarnate"). Die Annahme einer physischen Gestalt, und als Folge davon einer Sprache, ist in diesem Verständnis eine freiwillige Entscheidung derjenigen Mächte, die aus Liebe zur materiellen Welt und insbesondere ihrer (intellektbegabten) Geschöpfe sich mit ihr näher verbinden wollen. Dadurch unterscheiden sie sich von rein transzendenten, engelhaften Mächten,, und erst dadurch kommen sie in Betracht als Mitglieder eines Pantheons, das für die Geschicke  der materiellen Welt eine Rolle spielt. Der eine Schöpfergott, der hinter dem allen steht hat das wohl so angeordnet und gewollt, wird aber durch seine Boten soweit vertreten, dass er kaum mehr direkten Einfluss zu nehmen braucht. Das Resultat ist  ein Polytheismus, der einer Art Deismus untergeordnet ist. Einzig der Hochgott Manwē steht  in direktem Kontakt mit dem Schöpfer, und wird als dessen direkter Stellvertreter mit ihm faktisch fast identisch. Genau dasselbe ist im historischen Monotheismus passiert: im Hellenismus wurde der Hochgott (Jupiter-Zeus, und damit gleichgesetzt der orientalische El oder Yahu) wurde derart transzendent, dass er sich letztlich nicht mehr vom dahinterliegenden philosophischen Monismus abgrenzen liess.  
Varda daneben erhielt die Rolle der hohen Königin, die unter einer Vielzahl von Titeln verehrt und angerufen wird. Unverkennbar wird damit die katholische Marienverehrung abgebildet, die ja ihrerseits eindeutig polytheistische Züge hat. Eine von Tolkien herausgearbeitete Besonderheit ist, dass Varda speziell als Herrin der Sterne, und bei Sternenlicht, angerufen wird. Auch dieser Aspekt ist aber nicht ohne katholisches Vorbild, es sei nur an den Marienhynus Ave Maris Stella verwiesen.

Die oben beschriebenen mythologischen und theologischen Sachverhalte nahmen in Tolkiens Lebenswerk diese Form an in den 1950er und 1960er Jahren, als er sich darum bemühte, Fragmente, die er seit seiner Jugend mit sich herumtrug in eine veröffentlichbare Form zu bringen. 



Die genaue Gestalt von Hielschers Theologie ist mir nicht zugänglich. Seit 1933 stand er einer Unabhängigen Freikirche vor, die sich aber im Umkreis des deutschen Widerstands bewegte und sich daher bis 1945 im Unter- oder doch mindestens Hintergrund hielt. Sein mythologisches Weltbild scheint in zwölf Leitbriefen dargelegt zu sein, die er 1956/57 an seine Anhänger verteilte. Er lebte noch bis 1990, aber ab den 1960ern in  Abgeschiedenheit (und schient sich öffentlich ausschliesslich noch zum Thema studentisches Fechten geäussert zu haben). Über sein Bild der Zwölfgötter weiss ich nur, dass es sich an der germanischen Tradition orientiert, also an den zwölf æsir der Edda. Zuvorderst stehen demnach Wode und Frigga (Wotan und Frija, bzw. Odin und Frigg), daneben der "Ostergott" Fro (Freyr),  Freya und, im Gegensatz zum Zeugnis der Gylfaginning, scheinbar auch Loki und seine Frau Sigyn. Die weiteren sechs Götternamen sind mir unbekannt. [nachschauen! ed. P. Bahn 2009]
Dass mit Wode tatsächlich der Wuotan der Wilden Jagd gemeint ist, und wahrscheinlich auch eine Art liturgischer Jahreskreis damit verbunden war (also Wode an Mittwinter und Fro an Ostern) suggeriert ein Gedicht Hielschers (datiert 1979?): "Wir rufen Deine Wölfe / und rufen Deinen Speer / wir rufen alle Zwölfe / vom Himmel zu uns her / wir rufen Dich vor Allen / nun kommt die Wilde Jagd ..."

Donnerstag, 12. Januar 2012

Furniger Situ

Der Begriff "Forn Sed" (und Verwandtes) wird seit den 1990er Jahren im weiteren Umkreis des germanischen Neuheidentums verwendet. Es soll hier beleuchtet werden, wo der Begriff herstammt, wie er motiviert ist, und was er bezeichnet.

Kurz gesagt geht es um einen Zugang zu neuheidnischer Spiritualität, der sich  regionalem Brauchtum und Volksglauben (folktro, folketro) abstützen will, in Abgrenzung zu neuheidnischen Strömungen mit esoterischen, okkulten, eklektischen oder historisch-rekonstruktionistischen Ansätzen.

Begriffsherkunft

Das schwedische forn sed übersetzt altisländisch forn siðr. Letzteres ist eine einheimische mittelalterliche Bezeichnung für die vorchristliche Tradition. Übersetzt heisst es "der alte Brauch", "der ehemalige Brauch", im Gegensatz  zum gegenwärtig gültigen (christlichen) "neuen Brauch", nýr siðr. Es handelt sich also um einen  nicht-wertenden Begriff für die vorchrlistliche Tradition im allgemeinen, und zwar klar aus der Perspektive der Nachgebornenen, die darauf blickt als etwas Ehemaliges, Vergangenes. Vergleichbar ist vielleicht unser Begriff des Ancien Régime für die vor-napoleonische Gesellschaftsordnung.

Etymologisch ist forn identisch mit unserem vorn. Seine Bedeutung ist allgemein "alt", also weder ausdrücklich positiv als "altehrwürdig", noch negativ als "veraltet, vergammelt" konnotiert.
Ebenfalls verwandt sind fern und das veraltete firn. Der Duden kennt das Adjektiv firn noch als "Winzersprache", in der Bedeutung "alt (von Wein)". Substantiviert haben wir es als Firn "vorjähriger Schnee".

Das altnordische siðr entspricht unserem Sitte, nur dass das skandinavische Wort noch das ursprüngliche maskuline Genus bewahrt, das auch deutsch als der Sitt noch bis ins frühe 17. Jahrhundert Bestand hatte. Die älteste deutsche Form ist ein maskuliner u-Stamm, situ (Genitiv sites, Dativ site). Diese Stammklasse ist ahd. nur noch in wenigen, archaischen Wörtern sichtbar, etwa noch fridu "Frieden", hugu "Verstand" und sigu "Sieg". Die urgermanische Lautung wäre *siduz. Dieses Wort entspricht in Form und Bedeutung (fast) genau dem griechischen ἦθος ethos (unser "Ethik" entspringt dem abgeleiteten Begriff der aristotelischen τὰ ἠθικά) und dem indischen svadhā. Es ist demnach ein uraltes (indogermanisches) Wort für "eigene, althergebrachte, gewohnheitsmässige Gebräuche, Regeln und Gesetze", ursprünglich *swe-dh(eh)-, etwa "das sich selbst Gesetzte".

"Alte Sitte" wäre damit eine völlig adäquate neuhochdeutsche Übersetzung des isländischen Begriffs. Im Althochdeutschen, wo das Wort   für "Sitte" noch sein maskulines Genus hatte, ist noch nähere Entsprechungen wie forner situ,  firner situ oder furniger situ möglich.
Bedeutungsnuancen: ahd. fornig, furnig heisst "vormalig, einstig, alt, uralt"; firn heisst "alt, veraltet; erfahren"; forn ist wie im Skandinavischen am allgemeinsten und heisst sowohl "vorher, einst einstmals, früher" als auch "nach vorn, vorwärts".

Verwendungsgeschichte

Das germanische Neuheidentum bestand in institutionalisierter Form in Island und in Nordamerika seit den frühen 1970er Jahren, geläufig unter der Bezeichnung Ásatrú. Es ist dies ein Kunstwort, eine isländische bzw. altnordische "Rückübersetzung" des norwegischen Asetro, das der Librettist Bjørnstjerne Bjørnson in der dritten Szene von Griegs unvollendeter Oper Olav Trygvason (1873) als Bezeichnung für das Heidentum verwendet (und sich damit auf eine ältere Prägung, aus der ersten Hälfte des 19. Jh., stützt, die aber zuvor kaum eine Wirkung entfaltete).  Wörtlich bedeutet es "Asentreue", die deutsche Übersetzung des Librettos hatte Asenthum. Namentlich in Island wurde Ásatrú ab 1973 als einheimische Bezeichnung für "Neuheidentum" im allgemeinen gebräuchlich, beinhaltete also ein weites Spektrum an Esoterik, Pantheismus, Theosophie usw., stand aber durch die Selbstbezeichnung, und auch durch das isländische Nationalbewusstsein, implizit in der Nachfolge der vorchristlichen Traditionen Islands.

Organisiertes Neuheidentum erreichte Skandinavien (also Dänemark, Norwegen und Schweden) erst in den 1990er Jahren, beeinflusst sowohl durch die isländische als auch angelsächsische Vorgängerorganisationen. Die Terminologie wurde zunächst übernommen, mit der Gründung des Sveriges Asatrosamfund (1994)  und der Åsatrufellesskapet in Norwegen (1996). In Abgrenzung zum "eklektischen" Asatrosamfund formiert sich 1997 das Samfälligheten för Nordisk Sed in Schweden.  Forn sed wurde intern bereits in dieser Zeit verwendet, erscheint aber zuerst in offiziellen Vereinsnamen um 1999, mit der norwegischen Foreningen Forn Sed  und dem dänischen Forn Siðr. Während die dänische Gruppe sich selber als asatrosorganisation bezeichnet und Forn Siðr einfach als Vereinsname führt, steckt hinter der norwegischen, und insbesondere hinter der schwedischen Bezeichnung eine inhaltliche Debatte.  Seit 1996 wurde in Schweden, und davon beeinflusst auch in anderen Ländern, nordisk sedforn sed oder "Alte Sitte" sowie folktro "Volksglaube" in bewusster inhaltlicher Abgrenzung von Ásatrú (Asetro, Asatro, Åsatru) verwendet. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Begriffen führte in Schweden zur Bildung eines Nätverket Forn Sed (2004) als Abspaltung vom älteren Asatrosamfund. Die völlige Ablehnung jeglicher Verbindung zu Ásatrú und den damit verbundenen esoterischen und rekonstruktionistischen Facetten des Heidentums wie sie das Samfälligheten för Nordisk Sed betont wurde auch als funtrad (für fundamentalistisk traditionalisme) bezeichnet  (die hier als Sachfrage dargestellte Debatte war natürlich, wie immer in solchen Fällen, auch durch persönliche Animositäten befeuert). 

Der schwedische Begriff fand in der Übersetzung "Alte Sitte" ab 2003 in der Schweiz einen Niederschlag, ab etwa 2007 auch in der althochdeutschen Übertragung als der firno situ, seit 2012 als Vereinsname Firner Situ. Auch etwa 2007 taucht zudem die altenglische Form fyrn sidu auf, allerdings scheint sich im angelsächsischen Sprachraum eher die Bezeichnung Heathenry/Heathenism durchzusetzen. Aus Thüringen erscheint der Ausdruck 2009 als Firni Situ, später dann Firne Sitte.

In Schweden kam es schliesslich 2010 zu einer Umbenennung  des vormaligen Asatrosamfund in Samfundet Forn Sed, wodurch scheinbar eine Wiedervereinigung mit dem dissidenten Nätverket Forn Sed möglich wurde.  Gunnar Creutz hat 2009 in der Zeitschrift des Samfundet, Mimers källa no. 22, einen Artikel zu dieser Umbenennung veröffentlicht (nützlicherweise hier bereits verdeutscht von A. Zautner). Nach mehr als zehn Jahren terminologischer Haarspalterei hatte man endlich mal genug und wollte den Namen mit der weitesten Akzeptanz. Samfundet Forn Sed stellt nun den Begriff asatro als etwas unglücklich gewählt, anerkennt ihn aber immer noch als Bestandteil des inzwischen bevorzugten forn sed. In ähnlicher Weise bezeichnet das norwegische Foreningen Forn Sed die Verwendung von åsatro als "irreführend" (misvisende). Damit scheint die Situation in Schweden seit etwa 2009 so zu sein, dass forn sed als Überbegriff für eine Bewegung steht, die asatro als "irreführendes" aber nunmal etabliertes Synonym weiterführt. Die funtrad-Fraktion, die jede Verbindung mit asatro entschieden ablehnt, wird gebildet von der Samfälligheten för Nordisk Sed, und verwendet die Bezeichnung  nordisk sed (daneben folktro und hedendom, aber nicht das inzwischen "inklusivische" forn sed).


Bedeutung

Die Bevorzugung des Begriffs Forn Sed gegenüber Ásatrú hat also ihren Ursprung in der Bemühung um eine neuheidnische Identität in Skandinavien in der Zeit zwischen etwa 1996 und 2000. Es geht um eine begriffliche und konzeptionelle Abgrenzung von (mindestens) drei unterschiedlichen Zugängen zu neuheidnischer Spiritualität oder Religion.
  1. eklektisch (esoterisch, synkretistisch): Das wären "New Age" Heiden, die sich lose an historischen Religionen orientieren, aber letztlich an einer neuen, persönlichen Spritualität interessiert sind ("unverified personal gnosis")
  2. historisch-rekonstruktionistisch: Der Versuch, eine vorchristliche Religion aus historischen Quellen so genau wie möglich zu rekonstruieren ("polytheistic reconstructionism")
  3. folkloristisch-traditionalistisch: Der Versuch, überliefertes Brauchtum und Volksglauben als lebendige Spiritualität zu deuten ("Alte Sitte", forn sed, firner situ).
"Alte Sitte" kann pragmatisch oder fundamentalistisch (funtrad) betrieben werden; Ein pragmatischer Zugang wird komplementäre eklektische und rekonstruktionistische Komponenten zulassen. Reiner Eklektizismus wird aber sicher verworfen, weil man sich an einer spezifischen regionalen, ethnischen Tradition von Brauchtum und Volksglauben orientieren will. Und reiner Rekonstruktionismus wird deshalb abgelehnt, weil davon ausgegangen wird, dass die Tradition gar nie unterbrochen wurde oder "starb" sondern in veränderter Form lebendig auf uns gekommen ist, und daher nicht "rekonstruiert" zu werden braucht.

Bei der terminologischen Abgrenzung von "Alter Sitte" im Gegensatz zu "Asatru" vermischen sich demnach zwei Fragenkomplexe: einerseits die Frage nach dem Verständnis eines neuheidnischen Theismus bzw. Götterkults, und andererseits das im Heidentum inhärente Streben nach einer Auseinandersetzung mit lokalen, regionalen und ethnischen Traditionen und Wurzeln.

Das Kunstwort Ásatrú wurde dafür kritisiert, dass es den Götterkult implizit als Hauptsache einer "heidnischen Religion" darstellt (von Puristen ausserdem dafür, dass es sich explizit auf die Asen beschränkt, also die zentralen aber beileibe nicht einzigen Göttergestalten der altnordischen Tradition).
Ein fundamentaler Unterschied zwischen polytheistischer und monotheistischer Theologie besteht nun aber gerade darin, dass im Monotheismus der eine Gott als Schöpfer und Herrscher des Universums absolut als Zentrum, Anfang und Ende von allem verstanden wird, während im Polytheismus ein vielgestaltiges, oft unklar abgegrenztes und im Fluss befindliches Pantheon wohl Gegenstand kultischer Verehrung ist, aber keineswegs dieselbe kosmisch zentrale Rolle einnimmt. Entsprechend kann im Heidentum die Götterverehrung niemals dieselbe zentrale Rolle einnehmen wie der Gottesdienst im Monotheismus. Es ist eine Eigenheit des Monotheismus, begründet in seiner Entstehungsgeschichte und der damit verbundenen Doppelbedeutung des Wortes Gott, wenn Götterverehrung als verwerflich, Ahnenverehrung dagegen als akzeptabel gesehen wird. Aus der Sicht des Heidentums gibt es keine qualitative Trennline zwischen Götter- und Ahnenverehrung. Deshalb schien es angebracht, die Bezeichnung für ein wiederbelebtes, modernes Heidentum nicht gerade an den Götterkult zu binden. Theismus und Götterverehrung kann, muss aber nicht Bestandteil einer Befassung mit firnem site sein.

Zweitens verweist das Kunstwort Ásatrú auf das eddaische, wikingerzeitliche Heidentum in Skandinavien, und durch seine Prägung in Griegs Oper auch mit den damit verbundenen Vorstellungen der Nationalromantik. Dass der Name Ásatrú in Island gewählt und geprägt wurde ist deshalb stimmig, da ein isländisches Neuheidentum jeglicher couleur sich auf das regionale Erbe berufen kann, wurde die Edda doch in Island, von einem Isländer und für Isländer kompiliert. Bereits bei einer Übernahme des Begriffs in Schweden, das doch mit Island mindestens bis im 7. oder 8. Jahrhundert durch eine gemeinsame altnordische Kultur verbunden ist, scheint eine zu grosse Edda-Lastigkeit als kultureller Fremdkörper empfunden zu werden. Viel eklatanter wird der Effekt bei einem "Export" von "Asatru" in den englisch- oder deutschsprachigen Raum. Selbstverständlich ist der gesamte germanischsprachige Raum verbunden durch kulturelle und sprachliche Eigenheiten, die in die Völkerwanderungszeit zurückreichen, und die isländische Tradition ist von hohem Wert für alle, die sich für diese Gemeinsamkeiten interessieren. Trotzdem mutet es etwas skurril an, wenn die Edda, letztlich eine Sammlung für den Gebrauch skaldischer Dichter im mittelalterlichen Island, so etwas wie die Hauptquelle oder gar die "heilige Schrift" für einen deutsch-, oder eben auch schwedischsprachigen Heiden wird.

Aufgeklärtes Heidentum 

Forn Sed bezeichnet daher nicht bloss eine aussparende oder agnostische Haltung was polytheistische Theologie betrifft, sondern gleichzeitig einen Ansatz, der sich an lokalen und regionalen Traditionen und Bräuchen orientiert. Solche Traditionen sind meist längst nicht mehr als religiös markiert, oder waren es gar nie. Bräuche wie die alemannische Fasnacht mögen allgemein lose als "heidnisch" bezeichnet werden, eine Trennung von vorchristlichen und nicht-vorchristlichen Bräuchen, oder aber eine Rekonstruktion der ältesten Form hinter einem überlieferten Brauch ist aber explizit nicht das Programm.   Vielmehr steht hinter forn sed das Projekt, lokale und regionale Traditionen und Folklore, seien sie nun säkular oder in einem religiösen Kontext (Weihnachten, Ostern) auf uns gekommen, in einen neuen, "heidnischen" Zusammenhang zu stellen. Ob dieser neue Zusammenhang nun als "religiös" betrachtet werden soll oder nicht, er ist auf jeden Fall spirituell, und geht damit deutlich über Volkskunde oder historische Rekonstruktion (historical reenactment) hinaus. Volkskunde, Sprachgeschichte, Archäologie und historische Überlieferung sind hier zudienende Wissenschaften; was dabei entstehen soll ist ein neuer, immer wieder vertiefter spiritueller Zugang zu den eigenen Wurzeln, der sich nicht eskapistisch in einem Fantasieland der Wikinger abspielt, sondern einen Platz in der modernen, aufgeklärten Welt sucht.

Also ein aufgeklärtes Heidentum. Für naive Atheisten ist "aufgeklärte Religion" sowieso ein Selbstwiderspruch. Das ist aber ein Irrtum, eine kindische Verwechslung des Begriffs der Wahrheit mit einem blossen Faktum oder booleschen "Wahrheitswert". Ein Faktum ist per se bedeutungslos, eine Wahrheit dagegen sinnbehaftet. Weder muss ein Faktum eine Wahrheit sein, noch eine Wahrheit ein Faktum. Nur aufgeklärte Spiritualität kann die beiden zusammenbringen. Das gilt für aufgeklärtes Christentum (das leider auch von vielen selbsterklärten Heiden völlig verkannt und unterschätzt wird) und erst recht für eine Zusammenstellung der scheinbaren Gegensätze von Aufklärung und Heidentum.
Durch unsere heutigen Informationsmöglichkeiten können wir unsere Traditionen in einen viel tieferen historischen Zusammenhang stellen, als das vormodernen Menschen möglich war. Wir können unsere Bräuche und unsere Sprache in einen Zusammenhang stellen, der viele Jahrhunderte, in manchen Fällen Jahrtausende, umspannt. Das setzt historische Forschung voraus, und ein tiefes Interesse an vergangenen Epochen, aber es ist nicht "Rekonstruktion", denn es soll ja nicht der Zustand einer bestimmten Zeitstufe wiederhergestellt werden, sondern die historische Tiefe von etwas, das als lebendig verstanden wird. Anders gesagt bekommt die "Tradition" oder eben der firne Sitt eine vierte Dimension, steht also nicht für einen bestimmten Zustand (etwa "Island, 10. Jh.", oder "Alemannien, 6. Jh.") sondern eine organische, transzendente Kraft, deren Medium die Zeit, die Geschichte und die Leben und Geschicke vieler, vieler Generationen ist: vor uns, in den vergangenen Jahrhunderten, und hinter uns, in den Jahrhunderten die auf uns folgen werden, und genau dazwischen wir selber, in der vorübergehenden und trotzdem ewigen Sonderrolle der gerade Lebendigen.