Montag, 7. Mai 2012

so hat die Nacht der Oster weichen müssen

Seit einiger Zeit will ich hier etwas über Wotan schreiben. Doch das ist wohl das Schwierigste überhaupt; wer Wotan verstanden hat, denke ich, hat alles verstanden. Und wer hat schon alles verstanden?
Und dann ist es noch Mai. Wenn Grímnir sich jemals zu erkennen gibt, dann sicher in den finsteren, eisigen Rauhnächten und nicht an einem lauen Abend im Mai.
Nein, der Mai gehört deAustrō, der Oster, und wie ein Hesiod oder auch ein Milton die Musen anriefe, muss ich ihr zuerst die Ehre geben. Deshalb krame ich eine Strophe hervor aus einem der schönsten Oster-Hymnen aus dem Rigveda, gedichtet oder ("gehört") vor drei Jahrtausenden irgendwo im Hindukusch von Kakṣīvān Dairghatamas (mehr hier).

 idáṃ śréṣṭhaṃ jyótiṣāṃ jyótir âgāc
 citráḥ praketó ajaniṣṭa víbhvā 
 yáthā prásūtā savitúḥ savâyaṁ 
 evâ râtrī uṣáse yónim āraik

Ralph T.H. Griffith hat das 1896 so nachgedichtet:


 This light is come, amid all lights the fairest; 
 born is the brilliant, far-extending brightness.
 Night, sent away for Savitar's uprising, 
 hath yielded up a birth-place for the Morning.


Griffith's Übersetzung ist sehr gut. Sie wird gerne unterschätzt, weil sie nicht mit gelehrten Fussnoten gespickt ist und sich einige sprachliche Freiheiten erlaubt, die Wörtlichkeit der Sinntreue opfert. Aber sinntreu ist sie, und das erst noch silbenzählend (jede englische Zeile hat 11 Silben, genau wie im Original; metri causa schreibt er Morning statt Dawn, und Savitar bleibt unübersetzt, eigentlich "Erreger, Erwecker", d.i. die Sonne unmittelbar vor ihrem Aufgang). 
Deutsch kann ich  folgende Übersetzung anbieten:


 Dies Licht, schönstes der Lichter, ist gekommen, 
 Der Helle Schein geboren, fernhin leuchtend,
 den Aufgang des Erweckers vorbereitend,
 so hat die Nacht der Oster weichen müssen.


Wobei Oster natürlich nicht für Pâques (פסח) steht, den "beweglichen Feiertag", dem wir den ganzen Computus und dadurch immerhin die abendländische Mathematik verdanken, sondern für Austrō, d.i. Uṣás, die uralte, blutjunge Göttin des Morgenrots, des Frühlings und des verheissungsvollen Anfangs überhaupt. 


Hätte Kakṣīvān dieses Lied noch fünfzehn, zwanzig Jahrhundete früher gesungen, hätte es vielleicht so geklungen:


 hidom kreisthom dyūtisom dyūtis ēgwemt
 skitros prokeitos ēgenisto dwi-bhuwanm
 yodeh pro-sūteh seviturs seveyom
 eyeh lātrih Husosei younim ēleikwt


"dies schönstes der Lichter Licht ist gekommen, die glänzende Er-Scheinung ist geworden, die weithin-werdende, um das  Wachen des Weckers zu erwecken [3fache fig. etym., praktisch unübersetzbar], ja!, die Nacht hat der Oster einen Ursprungsort überlassen."


und hätte schliesslich wiederum dreissig Jahrhunderte später sich ein früher Germane dunkel an diese Strophe erinnert, würde er vielleicht gesungen haben:


 þes skaunista skîmamiz skîma kwumana,  
 leuhta wurdana berhta, wîda-raikjanda,
 wakjârjas umbi wakanai wîkanô 
 ja nahts, lahtra Austrôi lêtandô.  


"dieser, schönster der Scheine,  Schein [ist ge]kommen / Leuchten [ist] worden helles, weit-reichendes / um des Weckers [Er]Wachen [ist ge]wichen / ja die Nacht, [ein] Lager der Oster lassend." 

Das Licht ist gekommen, Tatsache und Heilsbotschaft in einem, das allerschönste weil das allerfrüheste, allererste, wer bräuchte da noch Theologie oder sonstwelchen Trost. Die Nacht musste weichen, der Anfang ist gemacht, und alles andere wird folgen -- aber in diesem Moment, in diesem ewigen ersten Licht bevor der Tag kommt, ist es nur erst erahnt, blosse Möglichkeit und Vorfreude. 
Wen wundert es, dass diese jahrtausendealte Hoffnung auf einen neuen Tag, ein neues Jahr, ein neues Licht und eine neue Welt schliesslich ihren Namen der neuen Verheissung verlieh, der Tod ist verschlungen in den Sieg -- sofern das nicht eben auch schon die alte war. Aber das ist Theologie, und wer im Morgenrot steht, der braucht das nicht.