Montag, 14. Oktober 2013

Trinoxtion Giamonii


Mornera im Oktober 2013

epi bertont-jo mi, tragont-jo karron,     [+1]
gnathi sentum digontes,                         

i
n rot-umat aksila brita-swipana,
tri temelon dalon antumni tu-westunt


wiros skalion brochtros
di temelu luknom wedi-mi
wiros skalion brochtros
di temelu luknom wedi-mi
sterako dubnoteru banet, tu-westunt 
sentum o-tegu nuchti
ande durus suli, trebu brochdion,      
[+1]   
brigantia karanta gabet-si lama-mi 
wiros skalion brochtros di temelu luknom wedi-mi
wiros skalion brochtros
  di temelu luknom wedi-mi

Die Rosse tragen mich dahin, ziehen den Streitwagen,
Jungfrauen weisen den Weg,
Die Achse in den Naben glühend, pfeifend,
Durch die dunklen Gefilde des Alls führen sie.

Eines Schattens Traum ist der Mensch
aus dem Dunkel führe ins Licht mich


Als ein Stern leuchtet er [Telesphoros-Cissonius?] in der Tiefe
vom Haus der Nacht den Weg weisend,
zu den Toren der Sonne und den Wohnungen der Träume:
Die Hohe [empfing mich] huldvoll und nahm meine Hand in die ihre.

Eines Schattens Traum ist der Mensch
aus dem Dunkel führe ins Licht mich


Dies ist mein erster Versuch, einen gallischen Text zu komponieren. Die Absicht ist ein altkeltischer/gallischer "Hymnus", der zum Totenfest, d.h. "Allerseelen" bzw. "Samonios", oder vielmehr Giamonios, den "Winternächten" passt und vermutete "altkeltische" Vorstellungen zum Jenseits transportiert. Natürlich wissen wir so gut wie nichts darüber. Mehr als ein paar Stunden konnte ich nicht investieren, man könnte das viel besser machen, aber da bedeutete wohl im wesentlichen ein Keltologie-Studium. Die gallische Grammatik ist nur sehr lückenhaft bekannt, und das fehlen einer Referenzgrammatik wie man sie online etwa für Urgermanisch konsultieren kann, macht es sehr schwierig; hier wäre keltologische Expertise gefragt, die ich nicht habe.  Für zukünftige Verbesserungnen hinterlasse ich daher für mich etwas Dokumentation zu Form und Inhalt. Das Metrum soll silbenzählend sein, die roten Ziffern zeigen fehlende Silben an (under construction, ich möchte 12/7/12/12 und für das "Mantra" 8+8).

Ich verwende altgriechische Versatzstücke, denn ich glaube, dass die antiken (vor-hellenistischen) mythologischen Vorstellungen noch sehr nahe Verwandtschaft mit anderen Formen der Mythologie der "westindogermanischen Eisenzeit" hatte; gleichzeitig schrieb man dem Druidismus auch schon früh-buddhistischen Einfluss zu, v.a. aufgrund der Vorstellungen der Seelenwanderung, und so wird ein Schuss "ostindogermanische Eisenzeit", über "thrako-kimmerische" und skythische Vermittlung wohl, die Mischung etwas "keltischer" gestalten. Im wesentlichen nehme ich also die Himmelsreise im  "Proömium" von Parmenides, das ja sehr stark den Verdacht erregt, es bewahre "vorsokratisches" Geheimwissen, und ebenso einen "Steppen"-Beigeschmack trägt, ja sogar als "schamanistisch" angesprochen wurde (vgl. Janda 2010). Von Pindar ist  Σκιᾶς ὄναρ ἄνθρωπος "eines Schattens Traum ist der Mensch" (Pyth. 8.95f.), kombiniert mit dem "vedantischen" Pavamana Mantra  tamaso mā jyotir gamaya "leite mich aus dem Dunkel ins Licht"; es ist aus  BrUp und damit gerade etwa gleich alt wie die hier angestrebte Zeitstufe, d.h. irgendwo zwischen Hallstatt D und La Téne A (es erinnert mich sehr an "abendstille Auen", d.i. von 1925, könnte aber geradesogut druidisch/vedantisch gewesen sein). Von Homer ist παρ' Ἠελίοιο πύλας καὶ δῆμον ὀνείρων "vorbei an den Toren der Sonne und den Häusern der Träume" (i.e. "gingen die Totengeister"; Od. 24.12), gelesen auf dem Bollinger lapis, von da auch ἀστὴρ ἐκ τοῦ βάθους  "als ein Stern in der Tiefe".

Diese Versatzstücke gälte es nun, in eine "gallische" Form zu bringen. Online Hilfsmittel: La Langue Gauloise (Dottin 1920); Proto-Celtic Lexical Items (Alan Ward 1996); Celtic Lexicon (Uni Wales, 2002), Lingua Gallica, "Gaulish Glossary" (Vorsicht) . Kelteag Nueadh, Chronarchy.com.

  

Samstag, 5. Oktober 2013

Griechensehnsucht


... es scheint mir ferner, daß es zum mindesten von Einseitigkeit und Beschränktheit zeugt, wenn der politische Philanthrop alle humane Schönheit und Würde in die prometheisch-emanzipatorische Gebärde verlegt. Ich brauche nur aufzublicken von meinem Tisch, um mein Auge an der Vision eines feuchten Haines zu laben, durch dessen Halbdunkel die lichte Architektur eines Tempels schimmert. Vom Opferstein lodert die Flamme, deren Rauch sich in den Zweigen verliert. Steinplatten, in den sumpfig-geblümten Grund gebettet, führen zu seinen flachen Stufen, und dort knieen, ihr Menschtum feierlich vor dem Heiligen erniedernd, priesterlich verhüllte Gestalten, während andere, aufrecht, in zeremonialer Haltung aus der Richtung des Tempels zum Dienste heranschreiten. 
Wer in diesem Bilde des Schweizers, das ich von jeher wert und mir nahe halte, eine Beleidigung der Menschenwürde erblickte, den dürfte man einen Banausen nennen. Trotzdem ist der politische Philantrop ohne Zweifel verpflichtet, dergleichen darin zu erblicken,  und soviel sei eingeräumt, — daß es ein nur zu schlagendes Beispiel für die Unzuverlässigkeit der Kunst als Mittel des Fortschritts bietet, für ihren verräterischen Hang zur Schönheit schaffenden Widervernunft. 
Offenbar aber ist die Humanität des emanzipatorischen Fortschrittes entweder nicht die wahre oder nicht die ganze Humanität; denn wie sollte ein Werk inhuman genannt werden dürfen, das dem von Frechheit, Schlechtigkeit und Pöbel-Gier gehetzten Blick eine Vision und Traumzuflucht würdevoll-demütigen Menschenanstandes bietet?  
Thomas Mann (1918)

“He has made a number of replicas of his most famous works. The first version of the painting ‘The Holy Grove’ (1882, 105 x 150 cm, oil, canvas) is situated at Basel Art Museum, the second version (‘Der Heilige Hain’, 1886, oil, wood) – in Hamburg Kunsthalle. [... as for the possible third version in Tallinn,]   its typical signature make it possible to believe that it is the author’s own replica.” (Mai Levin, Estonian Art Museum, Tallinn). 

Sonntag, 4. August 2013

Gründungszeit mit Eidgenossen


Statt Wilhelm-Tell-clipart plaziere ich hier ein Höhenfeuer vom letzten Donnerstag; ich war im Prättigau und wurde mit einem Ausblick auf ein gutes Dutzend Höhenfeuer entlang des ganzen Tals belohnt.
Nun war es ja 1. August, und es war die Aufgabe von Journalisten und Politikern, die Nationalmythen der Schweiz zu evozieren und auszulegen, allerdings rein metaphorisch, ohne "Naivität" oder, Gott bewahre, "Heimattümelei". Es hat sich seit den 1970ern eine eigene Art von goodthink zu diesem Thema herausgebildet. Inzwischen sind wir soweit, dass die Dekonstruktion des Nationalmythos selbst schon mythologische Züge angenommen hat. Jeder, der darüber schreiben will, muss zunächst formelhaft seinen Glauben an die Ahistorizität der Dinge bezeugen. Anno 2013 klingt das dann etwa so (TA):
Spätestens seit dem Buch «Gründungszeit ohne Eidgenossen» des Historikers Roger Sablonier ist gesichert, dass [die traditionellen] Geschichten über die Anfänge der Eidgenossenschaft mit den tatsächlichen Ereignissen nicht viel zu tun haben.
Sablonier war ein Mediävist, der 2008 (drei Jahre vor seinem Tod) ein Buch mit diesem Titel veröffentlicht hat. Es war der Anlass der vorerst letzten Runde der journalistischen "Entmythologisierung der Eidgenossenschaft". Vorwerfen kann man Sablonier selbst vielleicht seinen etwas polemischen Titel (das ist insofern gravierend, als Rezeption eines solchen Buches oft gar nicht weiter als bis zum Titel kommt). Darüber hinaus hat er aber einfach seinen Job als Historiker gemacht. Er gab auch nicht vor, bahnbrechende Enthüllungen zu verbreiten, sondern fasste im wesentlichen den Stand der Forschung zum Thema zusammen. Auf Nachfrage war er auch bereit, abzuwiegeln und völlig zutreffende und nüchterne Dinge zu sagen, wie etwa (swissinfo.ch):
Die Schweiz ist nicht mit dem Bundesbrief gegründet worden - diese Meinung ist nicht etwa neu. Der Bundesbrief "von 1291" ist kein Staatsgründungsdokument, weil man im Mittelalter nicht Staaten gründen konnte.
Dass der "Bundesbrief von 1291" laut Sabloniers Hypothese "eine Fälschung" sein soll, ist für die Zwecke der "Gründung der Eidgenossenschaft" auch völlig irrelevant. Diese "Fälschung" wäre nämlich nicht etwa nationalromantisch, sondern genauso mittelalterlich, sie datierte auf gerade mal 18 Jahre nach dem vorgeblichen Datum des Dokuments. Dieser leidige "Bundesbrief" verstellt heute v.a. den Blick auf die eigentlichen Gründungsmythen, die gar nicht auf 1291 sondern auf 1307 datiert waren. Aber nur schon die Existenz einer solchen "Fälschung" just in dieser Zeit würde ja nichts anderes zeigen, als dass die "Eidgenossen" (conspirati) eben nicht erst 1848, auch nicht erst 1804,  nicht erst 1570 und auch nicht "erst" 1470  sondern 1309 in den bekannten "legendären" Zusammenhang gestellt wurden, also genau das, was man heute auf keinen Fall mehr wahrhaben darf, eine Gründungslegende, die auf das frühe 14. Jh.  zurückgeht.

Laut einer ausgewogenen Rezension von Andreas Meyer (sehepunkte.de) kann man Sablonier, nebenbei gesagt, doch auch einige Unsorgfältigkeiten vorwerfen. Zudem ist seine Fälschungshypothese als genau dies zu sehen, eine historische Hypothese. Auch nebenbei erwähnt (obwohl ich mir fest vorgenommen habe, beim Kernthema zu bleiben und nicht einmal mehr in kuriose Details abzuschweifen) sei diese "Kritik" auf dillum.ch, die Webseite des "Keltenfreundes" Christoph Pfister.  Es sollte reichen, darauf hinzuweisen, dass der Mann auch den "Apollo-Hoax" vertritt; aber auch bei seinen Ortsnamen kommen mir die Tränen (vor Lachen), das würde sich bei Gelegenheit vielleicht zur eingehenderen heiteren Betrachtung anbieten.  Hier erwähne ich ihn, weil bei Google dieser vollständige Unsinn gedankenlos neben realen Sablonier-Kritikern erscheint und (z.B. hier) durch Online-Kommentatoren, die "kann googeln" gerne verwechseln mit "kann mitreden", herumgereicht wird.

Diese ganze Debatte (oder eben nicht-Debatte) zeigt vor allem eines: Die völlige Hilflosigkeit der Zeitgenossen, mit dem Wesen von Mythen oder Legenden umzugehen: Alles ist entweder historisch oder eben nicht historisch; und wenn man nachgewiesen hat, dass etwas mythisch ist, ist es folglich nicht historisch, also fiktiv, also gelogen. Das Wesen des Mythos ist aber weder "Historie" noch "Fiktion" sondern ein separater Modus der Wahrnehmung und Einordnung von sowohl Historie als auch Fiktion. Dies ist eine Binsenweisheit, die aber leider nicht in der Schule unterrichtet wird, und deshalb auch von gebildeten Leuten einfach ignoriert wird. Für uns, und für alle, die sich erkühnen, über "Gründungs-" und andere Mythen eine Meinung zu äussern, ist genau sie aber von grosser Wichtigkeit.

So gibt es bekanntlich grosse Parallelen zwischen der Mythologie von Dionysus und von Jesus Christus. Heisst das, wie von den Vertretern der "Christ myth theory" mit rührender Vehemenz vertreten, dass deshalb die Person Jesu "nicht historisch" sein kann? Natürlich nicht. Geschehnisse werden vom Menschen anhand präexistenter Mythologie interpretiert. Immer. Es ist der Normalfall. Ja, es fällt uns ohne bewusste Anstrengung zur wissenschaftlichen Methode  schwer, irgendetwas nicht-mythologisch zu erfassen. So gibt es, z.B., selbstverständlich eine Mythenbildung um John F. Kennedy, und in allerlei Anekdoten und Verschwörungstheorien werden Kennedy ganz gewiss auch "ahistorische" Elemente zugeschrieben. Daraus schliessen zu wollen, dass die Mythologisierung beweise, dass Kennedy nie gelebt habe, oder dass alle mythologisierten Elemente ahistorisch sein müssen, weil es einige sind, ist offensichtlich logischer Unsinn. Für eine Figur, die vor erst 50 Jahren gelebt hat, liegt das auf der Hand. Eine solche Figur kann dazu dienen, die natürlichen und immer eintretenden derartigen Prozesse zu verstehen, wenn sie uns in Epochen begegnen, die der direkten Dokumentation weniger zugänglich sind.

Was Historiker zeigen und Sablonier zeigen musste ist dies: Für jede beliebige Epoche gilt, wenn man die Mythologie in Abzug bringt, bleibt einfach Alltag übrig. Es ist eine wichtige Errungenschaft der Geschichtswissenschaft,  ein solches In-Abzug-Bringen der Mythologie überhaupt zu ermöglichen. Dies ist unverzichtbar, um sich ein Bild einer historischen Epoche machen zu können, um wirtschaftliche, demographische und sonstige "objektive" Rahmenbedingungen rekonstruiern zu können. Aber zu jeder Zeit wird jede menschliche Gesellschaft sich selbst und ihre eigene Vergangenheit eben auch in einen narrativen, nämlich "mythologischen", Kontext stellen. Der Mythos selbst hat damit historische Realität, als Teil der Ideengeschichte, und wer glaubt, ihn immer und grundsätzlich in Abzug bringen zu müssen, wird zwar Demographie und Realpolitik rekonstruieren können, wird aber nie die Selbstwahrnehmung oder den Zeitgeist einer Epoche erfassen. Mehr noch,  der Mythos ist eine ganz reale, die menschliche Geschichte nicht nur nachträglich "interpretierende" sondern auch aktiv formende Gewalt. Es werden nicht nur nachträglich und "fälschlicherweise" Ereignisse mythologisch gedeutet, der Mythos motiviert und inspiriert auch Handlungen. Dies findet meist unterhalb der Bewusstseinsschwelle statt, und der moderne Mensch (sofern er nicht ein religiöser Spinner ist und das Kalifat herbeibomben will) will diesen Modus nicht wahrhaben.

Um zu den "Gründungsmythen der Eidgenossenschaft" zurückzukehren: Nichts könnte falscher sein als der inzwischen gängige "bah, 1848-Nationalromantik"-Reflex. Es ist wahr, dass jede Generation aus diesen Legenden genau das gemacht hat, was sie für ihre eigenen Zwecke brauchte; ja, sie wurden "instrumentalisiert", aber das ist genau, wozu sie überhaupt da sind: Der mythologische Modus ist dazu da, einen Sinn zu stiften, wo sonst nur Alltagsgeschäfte wären. Aber die Geschichten wurden nicht 1848, und auch nicht 1804, und auch nicht 1570 "erfunden", sie wurden nur immer neu umgestaltet. Sie treten uns um 1470 in den frühesten Liedern der Eidgenossen entgegen, und sind zu dieser Zeit bereits vollständig ausgebildet. Sie sind eine in mündlicher Tradition gewachsene Erzählung von umwälzenden Ereignissen, die sich um die 150 Jahre zuvor abgespielt hatten, genau wie dies in jeder anderen vormodernen Kultur der Fall wäre. Das Erstaunliche ist daher  nicht ihr Auftreten "erst" 1470 (nämlich zum frühesten Zeitpunkt, zu dem sich irgendwer die Mühe nahm, die volkstümlichen mündlichen Überlieferungen überhaupt aufzuschreiben), sondern dass sie eben "schon" 1470 den Charakter von Volksgut haben, das gut auf "Menschengedenken", und damit vor 1400, zurückgehen kann.

Eine Bildungsbürgerzeitung kann es sich erlauben, in aller Seelenruhe in einer "infobox" zu behaupten (NZZ),
Verschiedene Chroniken zwischen 1470 und 1513 beschreiben die die Schlacht [bei Sempach] zwar im Detail, aber ohne eine Heldentat. Ein «Arnold Winckelriet» erscheint erst 1563 in der Chronik des Aegidius Tschudi. 
Die Zahl 1563 ist, nehme ich an, ein Tippfehler der Journalistin (kmr) für 1536.  Das kann vorkommen. Und so, hey, zwei Ziffern vertauscht und schon ist die Sage gerade nochmals eine Generation jünger geworden! (Die Sage muss junggeredet werden, also ist der Fehler in die "richtige Richtung" passiert und kümmert niemanden) Tschudi zitierte das Sempacherlied, das nicht nur bei ihm sondern auch bei Wernher Steiner (um 1532) und bei Melchior Russ (um 1488) Erwähnung findet. Das Lied stammt zweifellos aus der Zeit um 1470. Dem Leser zu suggerieren, dass Tschudi den Winkelried einfach erfunden habe, ist nicht gerade seriös (Waser in HLS spricht dagegen korrekt von einer "Zementierung" der Legende durch Tschudi). Wie bei Tell kann man die Winkelried-Legende nicht vor die 1470er zurückverfolgen. Das wären dann also mal um die 90 Jahre nach dem historischen Ereignis, also hart an der Grenze zur "lebendigen Erinnerung" (etwa wie für uns, sagen wir, der 1. Weltkrieg; vielleicht liegt noch Urgrossvaters Karabiner im Estrich, und wir erinnern uns noch gut, wie der Grossvater selig seinerzeit von seinem Vater erzählte).

Nein, man kann das Sempacherlied oder das Tellenlied nicht als historischen Tatsachenbericht ansehen. Ja, die einzelnen Pakte um 1300 waren eine weiter verbreitete Erscheinung. Ja, der unmittelbare Anlass, der die Innerschweiz überhaupt auf der überregionalen Agenda erscheinenlässt ist profan-strategisch-realpolitisch (die Öffnung des Gotthards, deren Geschichte natürilch selbst mit Legenden behaftet auf uns kommt). Das alles heisst aber noch lange nicht, dass in der Selbstwahrnehmung der betroffenen spätmittelalterlichen Bevölkerung (oder der lokalen Elite) solche "realpolitischen" Vorgänge" nicht schon von Anfang an in den Begriffen von Freiheit von habsburgischen Vögten und fremden Richtern gesehen wurden, genauso wie sie zwei Menschenalter später von ihren Nachfahren zur Zeit der Burgunderkriege dargestellt werden:
Von der Eydgnoschafft will ich's heben an, dessgleichen g'hört noch nie kein Mann, jhn' ist gar wol gelungen; sie hand ein' wysen vesten bundt, ich will euch singen den rechten grund, wie ein Eydgnoschafft ist entsprungen.
Ein Edel Land, recht als der kern, das lyt verschlossen zwischen berg viel vester dann mit muren: da hub sich der Bundt am ersten an, sie hand der sachen wysslich g'than jn einem land, heisst Vry.
Nun merkend, lieben Eydgnossen gut, wie sich der Bundt am ersten erhub, daz lônd euch nit verdriessen: das einer seinem liebsten sohn ein' öpffel von seiner scheytlen schon mit seinen henden musst schiessen. 
So aufgeschrieben 1501, gesungen sicher vor 1477, und in ähnlicher Form sicher auch vor 1450 (die Strophen über Tell bilden den Kern des Liedes, das bereits traditionell war, als es später um die "current events" der Burgunderkriege erweitert wurde). Das Lied hat noch nicht das schwülstig-romantische Vokabular von "Schwertkampf und Blutdampf", aber es beschwört, 400 Jahre vor der "Gründung der Schweiz", bereits alle Eidgenossen-Klischees, die Alpenfestung ("Wall dir von Gott"), die Weisheit und Ewigkeit des Bundes, und natürlich Tells Apfelschuss.

Nu was da ein redlicher man hiesz der Thäll, der hat
ouch zu dem stoupacher gesworn, und sinen gesellen.
(Weisses Buch von Sarnen, S. 447)


Tell (1897)
 Sucellus
Ob es nun einen Apfelschuss gab ist von untergeordneter Bedeutung. Ich behaupte hier nicht den Apfelschuss selbst, sondern die Legende des  Apfelschusses als historische, nämlich spätmittelalterliche Realität. Selbst wenn es keinen gab, kann die Legende davon ohne weiteres nach zehn Jahren, nein sogar nach zehn Wochen, wenn nicht zehn Tagen, kolportiert worden sein. Jedes Tabloid ist ein Hort der Faktentreue im Vergleich zur spätmittelalterlichen Gerüchteküche.
Und damit gebe ich noch lange nicht zu, dass es keinen Apfelschuss gegeben haben kann: Der aufgeklärte Schreiberling winkt ab und erwähnt Anlehnung an nordische Sage. Die gemeinte "nordische Sage" ist ein Bericht des dänischen Historikers Saxo Grammaticus aus dem 12. Jh. (über eine im 10. Jh. angesiedelte Geschichte). Wenn jemand daraus schliessen will, Tells Apfelschuss könne offensichtlich gar nicht historisch sein, der muss denn (z.B.) auch schliessen, dass Jesus unmöglich gekreuzigt worden sein konnte (offensichtlich mythologisch, Dionysus am Weltenbaum usw.), denn diese Art der Hinrichtung sei ja schon Jahrhunderte früher in einer "griechischen Sage" (Herodot) erwähnt.

Was ich damit sagen will, wird vielleicht klarer mit dem Hinweis auf eine andere dänische Geschichte: Sorg-Agre (englisch "Sorrow-Acre") von Isak Dinesen (Karen Blixen) in Vintereventyr ("Winter's Tales") von 1942. Zur Zeit ihrer Veröffentlichung hat diese Kurzgeschichte für Aufregung gesorgt, heute ist sie aber leider (so wenigstens mein Eindruck) weitgehend unbekannt. Dinesen (Blixen) schildert hier die innere Motivation eines Feudalherrn, dafür, eine "mythologische" und grausame Strafe zu verhängen. Er tut dies gerade weil sie mythologisch ist,  übernimmt damit willentlich die Rolle des Tyrannen, und tut dies (hier ist der Skandal) im Glauben, seine Rolle zu erfüllen und seinen Untertanen eine Gnade zu erweisen, weil diese die Strafe dadurch einzuordnen wissen und sich als Teilnehmer in einem überpersönlichen Drama verstehen können, statt als arme und geschichts- und schicksalslose Erdenwürmer. Dinesen (Blixen) beschreibt in der Rahmenhandlung sogar das moderne Unverständnis und Entsetzen gegenüber einer solchen Geisteshaltung, legt den "Skandal" also schon von sich aus offen (das verhinderte nicht, dass sie für ihre Erzählung offenen Abscheu erntete). Derselbe Skandal des mythologischen Weltbildes der Vormoderne begegnet uns auf Schritt und Tritt. Meiner Meinung nach kommt die entlarvende Blindheit von uns Moderenen für sein Wirken daher, dass wir uns beigebracht haben, uns zu zwingen, dieses Prinzip in der Gegenwart zu unterdrücken oder doch mindestens zu verleugnen. Das ist gefährlich, denn unterdrückte Mythologeme treten  nur umso unkontrollierter hervor (Wotan).

Die jüngste Epoche (1970-2010) hat die alten Legenden also als nationalistischen Krempel stigmatisiert. Man darf nicht glauben, dass dies einfach ein Zeichen von Fortschritt oder Aufklärung gewesen sei; vielmehr hat auch diese Entwicklung, wie jede "Instrumentalisierung" des Materials in früheren Zeiten,  unmittelbar eine Funktion erfüllt. Diese Funktion war wohl zunächst der Rückbau der "geistigen Landesverteidigung" (die in dieser Form ja tatsächlich obsolet geworden war), und dann darüber hinaus die Dekonstruktion der Idee von Staaten oder Völkern als gewachsenen Realitäten; dies im Interesse der Globalisierung und schliesslich der Reduktion der Menschheit auf Individuen und Marktkräfte. Dies fand in ganz Westeuropa statt, unsere kleine "Apfelschuss"-Polemik ist davon nur die regionale Ausprägung, und es wurden so innerhalb weniger Jahrzehnte radikal neuartige ökonomische und demographische Realitäten geschaffen, die eine Bevölkerung, der man nicht zuvor eingetrichtet hätte, ihre kollektive Identität sei eine verwerfliche moderne Fiktion, niemals akzeptiert hätte. Dafür gebe ich niemandem die Schuld, ich bin kein Verschwörungstheoretiker, und wer weiss schon, was da alles für Kausalitäten am Werk sind: Man kann nur Leute so nachhaltig übers Ohr hauen, die im Innersten eigentlich übers Ohr gehauen werden möchten. Ich sage nur dies: Die Ideologien der Vergangenheit stechen uns ins Auge, aber die Ideologie der Gegenwart ist  jeder Epoche unsichtbar, gilt als Einsicht, oder Fortschritt, oder tarnt sich gar als "antizyklisch", als mutiges Antreten gegen die Machenschaften reaktionärer Finsterlinge.


Item, der anefang der dryer lendern ure switz und under-
walden, wie sy da har gar erlich komen sind zum Ersten.
So ist ure das erst land das von eim römschen rych
enpfangen hat das innen gönnen ist, da ze rüten und
da ze wönen.
  Dem nach so sind römer kömen gan underwalden, den
hat das römsch rych auch da gönnen zu rüten und
da ze wönen, des sind sy gefryet und begabet.
  Dar nach sind kömen lüt von Sweden gan Swytz
das dera da heim ze vil was, die enpfiengen von dem
römschen rych die fryheit, und wurden begabet da
ze bliben ze rüten und da ze wonen.
  Und sind die vorgen. drü lender also lange zyt und
vil jare in in guten ruwen gesessen, untz das die
Grafen von habksburg in die nöche diser lender
kämen.
  (Weisses Buch von Sarnen, S. 441)

Montag, 29. Juli 2013

Helvetische Götter

Die Helvetier wollten ja, laut Cäsar 61 v. Chr. angestiftet von Orgetorix, ihr Stammesgebiet verlassen und in einem "Staatsstreich" die Herrschaft über ganz Gallien erlangen, daher eignen sie sich nur beschränkt als Nationalmythos für die Schweiz, welche Nation tritt sonst in die Geschichte ein, indem sie ihre Dörfer abfackelt und ihre Heimat zurücklässt, nur vom römischen Imperialismus nach der Niederlage bei Bibracte dann doch noch an die Scholle des Schweizer Mittellandes gebunden. Trotzdem wurde "Helvetia" dann der nationalromantische Name der Schweiz, denn die Kelten eigneten sich doch besser zur Integration der französischen Schweiz in den Bundesstaat (und schon zuvor in die frühmoderne République des Suisses) als irgendwelche Alemannen und hellebardenschwingenden Bergbauern.

Die Geschichte nahm ihren Lauf, aus Helvetiern wurden Gallo-Romanen, und im 5. und 6. Jh. kamen dann die Burgunder und die Alemannen dazu. Bis ins 4. Jh. überlebten einige gallischen Götter auch bei uns, Seite an Seite, oder manchmal sogar unentwirrbar vermengt, mit dem römischen Kult und orientalischen Mysterien. Das Christentum war zunächst einfach ein weiteres Element in dem Mix, und die Volksreligion, wie sie im Mittelalter und schliesslich in der Frühmoderne bestand, ist so etwas wie ein Sediment aus all diesen Einflüssen.
Wieso soll die Christianisierung ein schärferer Einschnitt gewesen sein als etwa das Verbot des Druidentums unter Tiberius, oder etwa die "nordthrakisch-kimmerischen" Einflüsse, die die bronzezeitlichen Kultformen verdrängten und den Grundstein für das legten, was uns später als "keltisch" oder "germanisch" entgegentritt... Der eigentliche Einschnitt fand statt mit der Reformation, Gegenreformation und schliesslich der Moderne und ihrer Post-Religiosität; wobei die zwinglianische Landeskirche in ihrer Postreligiosität nun offenbar den Kreis zu schliessen wild entschlossen ist, zumindest einzelne Pfarrerinnen ,die "keltische Kraftorte" zelebrieren (die erwünschten  Druidinnen bleiben historisch unbelegt, aber wozu historische Druidinnen,  die Erben Zwinglis holten dieses Versäumnis der Geschichte noch zwei Jahre vor Mists of Avalon nach, und dreissig Jahre später ist der Unterschied zwischen Wicca und Zwinglianismus so gut wie verschwunden.) 


Hier möchte ich einmal einsammeln, was über gallische bzw. gallo-romanische Götter in der Schweiz bekannt ist. Eine gute Zusammenfassung zum Thema finde ich beim Jesuiten Prümm (1954) "zur kaiserzeitlichen Religionslage in der Schweiz", basierend auf Vorarbeit von Felix Stähelin, Die Schweiz in römischer Zeit (1931)


Caturix, oder Mars Caturix (wobei catu-rix (=Hadurih) soviel heisst wie "warlord") scheint ein echt helvetischer Gott zu sein, vielleicht sogar der Hauptgott der Helvetier, oder zumindest der helvetischen Kriegerkaste. Weihinschriften an Mars Caturix haben wir aus der Waadt (Avenches, Yverdon, Pomy bei Yverdon, Nonfoux und Riaz bei Bulle). Wohl benannt nach diesem Gott, und ursprünglich vielleicht verwandt oder identisch mit den Helvetiern, sind die Caturiges, die weiter südlich auf den Alpenpässen nach Italien sassen. Cicollos wird in einer Inschrift in Windisch angerufen. Sein Name wird verstanden als "fleisch-mächtig, muskelkräftig"; dies mag ein Beiname des Kriegsgottes Caturix gewesen sein, den wir uns demnach als sehr gutgebaut vorzustellen hätten, ein richtiger Herkules (in einer Inschrift in Augst heisst er ausserdem "der Grosse", Mars Magianus, und ich frage mich sofort, ob die Mode der Herkuleskeulen-Amulette, die hierzulande im 3. Jh. aufkam, mit diesem Gott in Zusammenhang steht? Diese Herkuleskeulen wurden in der Völkerwanderungszeit zu elbegermanischen Donarskeulen umgedeutet und wurden schliesslich (wohl in Anlehnung an die christlichen Kreuz-Amulette) zu den wikingerzeitlichen Thorshammer-Anhängern (von denen man nebenbei gesagt weiss, dass sie  Frauenschmuck waren; das könnte vielleicht jemand mal  den harten Jungs weitersagen, die heute damit herumlaufen).  Eine Cantusmerta oder Cantismerta scheint die Frau des Mars Caturix zu sein, wohl dieselbe wie Rosmerta (und der gallische Mars heisst auch Smertrios. Das Element smert- wird zu smeru "Fett" gestellt, gut möglich, dass sich das, wie unser Wort Gott wohl auch, auf das Einfetten von Kultfiguren bezieht). Das Paar Caturix und Cantusmerta (Mars und Rosmerta) hatte Kapellen in Allmendingen bei Thun. Gleich daneben waren auch Kapellen, die dem Mithras geweiht waren, in einer beispielhaften "einheimisch-orientalischen Kultmischung" (Prümm).

Lugus, der "dreieinige" Gott der Kelten, ist im Dativ Plural erwähnt in einer Inschrift in Avenches (CIL XIII 5078)  LVGOVES  "für die Luge". Die Inschrift stand auf einer mächtigen Säule, auf der vielleicht einmal ein Standbild dieser Luge war. Das sonst gänzliche Fehlen dieses früher so zentralen Gottes erkläre ich mir so, dass Lugus kein volkstümlicher Gott war, sondern vermutlich mit einer sehr komplexen Theologie ausgestattet der Hochgott der Druidenkaste war, die sich bereits 500 Jahre vor Nizäa den Kopf über die Probleme der Dreifaltigkeit zerbrach (zugegeben mit dem etwas "barbarischeren" Ergebnis des "dreifachen Todes" im Menschenopfer). Nach dem Verbot des Druidentums unter Tiberius (r. 14 bis 37 n. Chr.) war Lugus vielleicht der einzige gallische Gott, der aktiv unterdrückt wurde (ganz ähnlich wie später Wotan der einzige Gott war, dessen Name aus den Wochentagen zu tilgen man für nötig hielt).

Der Stierkopf mit drei Hörnern von Martigny
(das mittlere Horn ist wohl leider abgebrochen)
Ohne Zuordnung zu einem Namen, aber hier zu erwähnen im Zusammenhang mit der "Dreizahl" ist ein Stier mit drei Hörnern, Darstellungen davon kennen wir aus Martigny und Baden. Der dreihörnige Stier ist auch sonst gut bekannt, aus dem östlichen Gallien und dem Rheinland. Was dieser Stier bedeutet, weiss niemand mehr. Frappierend finde ich in dem Zusammenhang den Tarvos Trigaranus vom Pilier des Nautes in Paris: auf diesem Stier sitzen drei Kraniche statt drei Hörner und sein Name heisst auch nichts anderes als "Stier mit drei Kranichen". Nun spekulierte bereits MacCulloch (1911): "the three cranes (garanus, 'crane') may be a rebus for three-horned (trikeras), or more probably three-headed (trikarenos)". Ich muss zusätzlich, sollte hier "Kranich" als "rebus" oder Platzhalter für "Horn" eintreten, an die rätselhaften völkerwanderungszeitlichen, mit dem Wotanskult assoziierten "Vogelhörnerhelme" (bird-horned helmets) denken: Wie naheliegend kann es sein, einen Vogel anstelle eines Horns einzusetzen? Liegt die Erklärung dieser rätselhaften ikonographischen Tradition in einem Wortwitz, einem "rebus" oder gar einer Verwechslung (carnonosgaranos)? Aber "Stier mit drei Kranichen" ist offensichtlich die lectio diffiicilior; eher könnten die drei Kraniche das Ältere sein, und der "dreihörnige Stier" das gallo-romanische Missverständnis? Oder haben wir hier eine letzte Spur einer druidischen Geheimlehre (druidische Theologie war zweifellos höchst abstrakt, mit Symbolik zu Seelenwanderung und Dreigöttern)? Passend dazu der Druide Mogh Ruith aus der irischen Sage, dessen Arbeitsgewand aus einer "dunkelgrauen, hornlosen Stierhaut" zusammen mit einer "weiss-gesprenkelten Vogel-Kopfbedeckung" bestand  (Macculloch 1911, O'Curry 1873). Ich will hier keine unbeweisbaren Behauptungen aufstellen, aber mir bleibt der Eindruck einer Parallele zwischen Lugus und Wotan; beides waren etwas unheimliche Götter (Menschenopfer) mit sehr komplizierter Theologie die nach einem religiösen Wandel als gefährlich eingestuft wurden und deren Kult wohl einige Zeit in Geheimbünden weiterbestand. Die Idee, dass der frühe Wotanskult der späte Luguskult ist, halte ich für erwägenswert. Beweisen können wird man das nie; der erste, der Wotan von Lugus herleiten will (und  Loki als "Odinshypostase" direkt als Fortsetzer von Lugus sehen möchte) bin ich jedenfalls nicht (Rübekeil 2003 mit älterer Literatur).

Für die Matrones ist eine Weihinschrift (CIL XIII 5158c), ebenfalls aus Allmendingen. Die Suleviae (erwähnt in Lausanne, Avenches, Bern und Solothurn) sind auch eine "dreieinige Göttin", vielleicht dieselbe wie die Matronen, vielleicht auch eher eine Art "Nornen", heisst ihr Name doch "die wohl-Leitenden" passend zu Schicksalsgöttinnen.

Sucellus war offenbar in ganz Gallien ein wichtiger Gott, identifiziert mit Silvanus und deshalb als Waldgott angesprochen. Mehrere Statuetten dieses Gottes wurden in der Schweiz gefunden, dargestellt wird er als bärtiger Mann, der in der einen Hand eine langstielige Waffe (ein Doppelhammer) und in der anderen einen Topf oder Becher hält (ein Bierkrug), manchmal ist er auch in Begleitung eines Hundes. Als "Gott mit dem Hammer" (sein Name heisst "der wohl-Schlagende", "der hart zuschlägt"...) auch ein Kandidat für "Herkules" und den späteren Donar.



Der Sucellus aus Lausanne
(Becher und Hammer leider verloren)
Der Sucellus aus Visp
(den Becher hat er noch, der Hammer ist auch verloren)
Hodlers Tell (1897) als Briefmarke (1941).
War Hodler ein Seher, oder doch eher Antiquar?

Auch von grosser Wichtigkeit ist das Zinktäfelchen, in den 1980ern in Bern raubgegraben, mit der Inschrift ΔΟΒΝΟΡΗΔΟ ΓΟΒΑΝΟ ΒΡΕΝΟΔΩΡ ΝΑΝΤΑΡΩΡ. Allein die Verwendung griechischer Schrift zeigt, dass es allenfalls nur kurze Zeit nach der römischen Eroberung datieren kann. Angesprochen ist der Schmiedegott Gobannos, auch er ist von pan-keltischer Bedeutung und überlebt im mittelalterlichen Irland als die Sagengestalt Gobán Saor. Unterzeichnet ist die Widmung von den Leuten von "Brennodurum im Aare-Tal".  Der Schmiedegott erscheint hier mit einem Beinamen, als Dobnoredos Gobanos; dies wird verstanden als "Welt-Fahrer", von dubno- "Welt" und redo- "reisen, fahren". Dass der Schmiedegott auch ein "Reisender" sein soll ist etwas überraschend, und vielleicht steckt da noch mehr Kosmologie dahinter. Das redo- "reisen, fahren" (zu Rad) evoziert einen Streitwagen und damit den sonst in Gallien gut belegten (aber bei uns scheinbar nicht vertretenen) "Rad-Gott" (identifiziert mit Taranis).

Zeichnung des Berner Zinktäfelchens. Elementares Zink wurde erst im Mittelalter beschrieben (der Name stammt von Paracelsus), konnte aber in Rückständen in Schmelzöfen auftreten. Das Täfelchen wurde vielleicht aus solchen Rückständen hergestellt und könnte sehr wohl das älteste Objekt aus "reinem" Zink überhaupt sein.









Epona, die Pferdegöttin, war wohl der erfolgreichste gallische Export ins Römische Reich.
Sterckx 1986 liefert mehr als dreihundert Belege zwischen Britannien und Pannonien. Manchmal erscheint sie als Reiterin in klassischen römischen Fresken, fast wie eine weibliche Ausgabe des "Thrakischen Reiters" (der ebenfalls grosse Karriere im römischen Reich machte) manchmal einfach als Begleiterin eines oder mehrerer Pferde, denen sie schützend die Hände auflegt. Eine solche Darstellung wurde gefunden in Seegräben am Pfäffikersee, es ist eine vergleichsweise primitive Darstellung (künstlerisch niemals vergleichbar mit etwa dem Relief aus Salonika), in der die stehende Epona von vier Pferden umringt wird. Weihinschriften an Epona sind ausserdem bekannt aus Augst, Solothurn und Granges-près-Marnan.




Die Epona von Seegräben. Dies ist das beste Bild, das ich online finden konnte (Kantonsarchäologie Zürich), vermutlich aus  Stähelin  Denkmäler und Spuren helvetischer Religion (Anzeiger für schweizerische Altertumskunde 26, 1924).












Die Darstellung der Bärengöttin Artio dagegen lässt künstlerisch keine Wünsche offen; gefunden wurde sie 1832 bei Muri bei Bern. Die sitzende Göttin hat einen Fruchtkorb, deren Inhalt sie offenbar dem ihr gegenüberstehenden Bären (bzw. der Bärin) anbietet. Wie bei Epona, und bei Tierattributen von Göttern überhaupt, kann man sich fragen, inwieweit Artio einen Bären hat, oder vielleicht doch eine Bärin ist. Auf dem Sockel der Plastik ist die Inschrift  (CIL XIII 5160) DEAE ARTIONI / LICINA SABINILLA, also "gestiftet der Göttin Artio von Licina Sabinilla".



Fund der Artio-Bronze, von Rudolf Münger
(Blätter für bernische Geschichte, Kunst und Altertumskunde, ca. 1905)



Ebenfalls zur "Muri-Gruppe", nebst Statuetten von Jupiter, Juno und Minerva, gehört die einzige bekannte Darstellung der Göttin Naria, mit Namen identifiziert in der Inschrift  auf dem Sockel (CIL XIII 5151). Leider sind ihre Hände abgebrochen, in denen sie wohl ihre Attribute hielt.
Eine Naria Nousitania ist ausserdem erwähnt in La Neuveville (CL XIII 5151)










Etwas diffuser, aber dafür im territorialen Sinn "helvetisch", sind einige  lokale Gottheiten, namentlich Dea Aventia in Avenches (Aventicum),  eine Quellgöttin, deren Name auch einfach "die Quelle" heisst. Aventicum ist eine römische Gründung, aber 1km südlich stand schon früher ein helvetisches Oppidum; die Quelle und die Quellgöttin könnte, könnte aber auch nicht, bereits vor der Stadtgründung verehrt worden sein. Daneben gab es auch eine Dea Geneva in Genf.

Merkwürdig ist der Name Anextlomara, offenbar eine weibliche Form des sonst männlichen Anextlomaros, eine Art Heil- oder Schutzgott, der mit Apollo gleichgesetzt wurde. Der Name wird gedeutet als "grosser Beschützer", oder in unserem Fall, "Beschützerin". Der ebenfalls apollo-artige ostgallishe Belenos scheint uns ganz zu fehlen (allenfalls steckt er hinter dem Ortsnamen Biel-Bienne).  Im Zusammenhang eines gallischen Heilgottes fällt mir Telesphoros ein, bei den Griechen ein Sohn des Asklepios, der möglicherweise aus dem Kult der Galater entlehnt wurde; jedenfalls wurde er als Zwerg mit einem (aus griechischer Sicht) typisch gallischem Kapuzenmantel dargestellt (dieser Heilzwerg mit Kapuze hat nebenbeigesagt C.G. Jung sehr gut gefallen). Aber hier haben wir es mit einem apollo-artigen "grossen Beschützer" zu tun und nicht mit einem Zwerg. Die weibliche Form davon, die "grosse Beschützerin" wird in einer Inschrift in Avenches angerufen, vielleicht, ich kann nur spekulieren, zur Heilung von frauenspezifischen Gebrechen. In Augst noch eine Erwähnung der sonst eher in Gallien und entlang des Limes bekannten Sirona, eine Göttin von Heilquellen, als Begleiterin von Apollo Grannus auch mit Diana identifiziert.


Mercurius Cissonius ist erwähnt in Weihinschriften in Avenches und zweimal(!) in Promontogno im Bergell. Die eine Bergeller Inschrift (AE 1 991, 1300) wird gelesen als Mercurio [Ci]ssonio [M]a[t]utinomatutinus heisst hier wohl nicht "der morgendliche" sondern eher "der Gute", von gall. matu- "gut" (Natürlich wurde Merkur auch in seiner klassischen Form verehrt; wir haben eine schöne Darstellung eines Ziegenopfers an ihn aus Augusta Raurica).
Einen Mercurius Matutinus haben wir ausserdem in Baden und Wettingen  (CIL XIII 5235  und 34c). Passenderweise begegnet uns der Beschützer der Wege bzw. Gott der Handelsreisenden nicht im helvetischen Kerngebiet um Avenches sondern entlang einer Reiseroute; aus dem Aarebecken kommt man über Baden via Limmat, Linth und den Rhein nach Churrätien und über den Julier und das Bergell schliesslich nach Mailand; oder aber entlang des Inn ins alte Noricum und letztlich an die Donau.  Ein Sedatus, sonst nur aus dem Donauraum bekannt, wird in St. Moritz erwähnt.

Der andere Weg nach Süden führt über das Wallis (der Gotthardpass wird erst im Hochmittelalter erschlossen); Poeninus war bekanntlich der Schutzgott des Passes, für den nun der heilige Bernhard zuständig ist.  Gnädig gestimmt wurde Peoninus durch zahlreiche Weihinschriften, vorsichtshalber mit allerlei Ehrentiteln angerufen, etwa als Iuppiter Optimus Maximus Poeninus.

Rhenus Pater war der Rhein; ob das ein gallischer (geschweige denn helvetischer) Gott sei, bleibe dahingestellt, auf jeden Fall war auch er als Transportweg von überragender und überregionaler Bedeutung. In Eschenz ist eine Inschrift [F]LVM RHENO PRO SALVTE. Der Name Rhein heisst ja (einmal mehr) einfach "Fluss", soll aber möglicherweise bereits vorkeltisch sein. Sein  männliches Geschlecht ("der Rhein") ist sicher bedeutend, die meisten Flüsse sind natürlich weiblich (aber auch in der Celtica: le Rhône = der Rotten = Rodonos; der Inn = Enios; Ticinus; doch nicht: le Doubs = Dubis f. "die Schwarze")


Mittwoch, 24. Juli 2013

Dienstag, 8. Januar 2013

Dodekahemeron

Haben die "Zwölfnächte" oder "zwölf Tage nach Weihnachten" (Twelve Days of Christmas) zu tun mit dem "Jul" in frühgermanischer Zeit, einem alten kalendarischen Hauptfest um Mittwinter, das mehrere Nächte dauerte, die ursprünglichen "Weihnachten" oder "Weihnächte" nämlich? Oder woher stammen unsere "Zwölfnächte" oder "Rauhnächte" denn sonst? Die Experten winken ab. Es handle sich um nichts anderes als eine Übernahme des Dodekahemeron (δωδεκαήμερον) aus dem christlichen Festkalender:
 nichts als das germanische Abbild des christlichen Dodeka-hemeron (Tille 1893:282, 1899:79)
Zweifellos haben aber unsere Zwölfnächte mit dem Dodekahemeron zu tun. Das eine erklärt das andere nicht, aber zusammenhängen tun sie. Man würde also annehmen, dass diese "Zwölfnächte" oder "Zwölftage" irgendwann während des frühen Mittelalters im Zusammenhang mit dem christlichen Fastenkalender zu uns gekommen wären. Im folgenden komme ich aber zum Schluss, dass die Zwölfzahl dieser "Weihnächte" sich wohl im Merowingerreich ("in Gallien") während des 5. Jh. entwickelt hat. Es geht also weniger um ein "germanisches Abbild" eines bereits bestehenden, älteren, christlichen Brauchs sondern vielmehr um eine Tradition, die sich just während der Christianisierung der südlichen Germanen erst herausbildet.

Die Zwölfnächte werden  zudem oft dargestellt als eine "weit verbreitete" Praxis bei lunisolaren Kalendern überhaupt, die Differenz zwischen "Mondjahr" und Sonnenjahr als besondere Zeit zu begehen. Hier ist ein wenig klares Denken gefordert. Es ist wahr, dass die Differenz zwischen zwölf Mondmonaten und einem Sonnenjahr etwa zwölf Tage beträgt. Diese Tatsache wird gerne etwas nonchalant zitiert um eine entsprechende Zeitspanne "zwischen den Jahren", also "um Mond- und Sonnenkalender in Einklang zu bringen" zu postulieren. Das ist aber Unsinn: diese zwölf Tage summieren sich über eine Zeit von zwei bis drei Jahren zu einem vollen Mondmonat, und dann folgt ein Schaltmonat. Zu keiner Zeit kann man Mond- und Sonnenkalender durch Einschaltung von zwölf Tagen in Einklang bringen: man muss warten, bis sich diese Differenz zu einem vollen Monat aufsummiert hat, andernfalls bringt man überhaupt nichts in Einklang. Das kann also nicht der Ursprung sein, und es wäre schön, wenn die Leute auf Wikipedia (und anderswo; Stetner 2008) aufhören täten, so etwas diffus zu implizieren ohne je genau festzuhalten, wie das denn genau gehen sollte.

Motiviert wird das Dodekahemeron durch das Auseinanderliegen der zwei traditionellen Daten für die Feier der Geburt Christi, am 25. 12. ("Weihnachten") und am 6. 1. ("Epiphanias"). Diese Differenz hat nb. nichts mit irgendwelchen Kalenderreformen zu tun (wie man das manchmal lesen kann), sondern diese zwei Daten entsprechen ganz einfach zwei Traditionen, die sich im 4. Jh. unabhängig voneinander entwickelt hatten. Das Weihnachtsdatum geht zurück auf die Geburtsfeier des Sol Invictus in Rom. Diese Feier ist selber auch erst spätantiken Datums (eingeführt um 270), das Datum "25.12." geht aber letztlich auf das Datum der Sonnwende zurück (das "traditionelle Datum" für die Sonnwende im römischen Kalender, Bruma, VIII Kal. Ian. Die Differenz zum gregorianischen Datum, 21.12., ist eine Folge der "unkorrigierten" julianischen Schaltjahre in den Jahren 100, 200 und 300; lesen: 1 2 3). Der 6. 1. war dagegen das Datum der Geburt des Aion aus der Jungfrau Kore im synkretistischen persisch-ägyptisch-hellenistischen Kult, der im Osten des Reiches, namentlich in Alexandria, populär war. Auch diese Feier ist spätantik, belegt erst für das 4. Jh. (Epiphanius von Salamis, Haereses 51.22.10), so dass es überhaupt nicht selbstverständlich ist, dass das christliche Fest vom heidnischen stammt, geradesogut könnte es umgekehrt sein.

Die Geburtsfeste beider Figuren, Sol Invictus und Aion, wurden jedenfalls im 4. Jh. auf die Geburt des Christus bezogen. Das Hervorheben des Zwischenraums zwischen diesen Daten als eine besondere Zeit dagegen war nicht zwingend und muss sich irgendwie und irgendwann im 5. oder 6. Jh. entwickelt haben, möglicherweise beeinflusst von bereits bestehenden Winterbräuchen.

Die allerfrüheste Anerkennung dieses Zeitraums als irgendwie besonders, die ich finden kann, stammt nun nicht aus dem byzantinischen Raum sondern aus dem fränkischen Reich: Die Synode von Tours von 567 (Lippert 1882) habe das Dodekahemeron zuerst "anerkannt".  Die  entsprechende Stelle in den Acta Conciliorum Et Epistolae Decretales:
 (xvii) quia inter natale Domini & epiphania omni die festivitates sunt, itemque prandebunt.  Concilium Turorense II (zit. Chambers 1903)
Die fränkischen Mönche sollen an diesen Tagen nicht etwa  fasten, sondern da es "alles Festtage sind" sollen sie essen.  

Die westliche Interpretation der beiden Feste, Geburt am 25. 12. und Ankunft der drei Könige "zwölf Tage später" am 6. 1., lässt sich schon im späten 4. Jh. nachweisen, in einem lückenhaft überlieferten Text von Bischof Filastrius von Brescia (starb 397):
Sunt quidam dubitantes haeretici de die Epiphaniorum Domini Salvatoris qui celebratur octavo idus Januarias, dicentes solum Natalem debere eos celebrare Domini octavo kalendas Januarias, non tamen diem Epiphaniorum, ignorantes quod sub lege et secundum ** Salvator carnaliter omnia in se et de se consummabat, ut et nasceretur VIII kal. Jan. et appareret VI. Apparuit Magis post duodecim dies *** in templo. (Philastrius Brixiensis, liber de haeresibus, PL 12 / CCL 9)
Manchmal lese ich allerdings, schon Ephraim (Ephraem, Ephräm, Ephrem) der Syrer habe im 4. Jh. die "Heiligkeit" dieser zwölf Tage betont (Höfler Rauchnächte 1903, Chambers Mediaeval Stage 1903). Dies jeweils ohne Stellenangabe, die Leute schreiben das einfach voneinander ab. Man kann das wohl getrost ingnorieren. Die römische "Weihnacht" wurde in den 350ern eingeführt, und Ephraim starb 378. Bei Ephraim, als dem wichtigsten und produktivsten syrischen Autor überhaupt, war "die Gefahr einer Beimischung fremden Gutes, wie diejenige mannigfacher textlicher Veränderung auch des ursprünglich Echten im vornherein in höchstem Grade gegeben" (Baumstark, Geschichte der syrischen Literatur, 1922, p. 35).


Alter und Herkunft des Epiphanias-Festes am 6.1. ist wohl eine Frage für sich (Der syrische Name von Epiphanias ist deno ܕܢܚܐ, aram. דנחא, das heisst soviel wie "Aufleuchten; Sonnenaufgang; Morgenröte", entspricht in der Bedeutung also επιφάνεια; ob das syrische Wort das griechische übersetzt oder umgekehrt weiss ich nicht). Ich vermag nicht zu entscheiden, ob seine Herkunft letztlich nun syrisch/aramäisch, griechisch, ägyptisch oder "gnostisch" sei. Wertvoll ist hier der  grosse jesuitische Dictionnaire de spiritualité (unter Épiphanie): Im östlichen Christentum lasse sich eine Feier am 6. 1. bereits am Ende des 2. Jh nachweisen. Was der letzlich heidnische Ursprung der Feier war, ist nicht mehr bekannt.  Dass der Ursprung diesern Feiern heidnisch ist, ist nb. nicht etwa eine Peinlichkeit für die Kirche, vielmehr sagen die jesuitischen Autoren des Artikels an dieser Stelle:
L'Église n'a pas craint de s'emparer des dépouilles du paganisme; respectant ce qu'elle percevait de préfiguration du mystère du Christ dans ces cultes, elle a donné à des formes anciennes un contenu nouveau.
Zur Übernahme des Festes in der Westkirche betont der Artikel, wie früh dies v.a. in Gallien geschehen sei: Les origines de l'Epiphanie en Gaule sont fort anceinnes, plus anciennes peut-être que celles de Noël.  Laut (dem heidnischen Autor) Ammianus Marcellinus sei das Fest im Jahr 361 in Paris gefeiert worden.

Sicher ist, dass am Ende des 4. Jh. Weihnachten und Epiphanias im Westen nebeneinander existierten, während im Osten das Weihnachtsdatum erst im 5. und teilweise im 6. Jh. zur Geltung kam (teilweise gar erst "auf kaiserlichen Druck", Beck, Kirche und theologische Literatur in Byzanz, 1959, p. 259). Die westliche Interpretation der "Zwölftage", die sich schliesslich auch in das Brauchtum des Mittelalters fortsetzte, etablierte sich "in Gallien", d.h. im Frankenreich, während des 5. Jh. Die früheste Erwähnung der dazwischendenliegenden Tage als besondere Festzeit stammt aus dem Frankenreich in den 560ern. Viel kalendarisches Brauchtum ist mit den Römern und dem Christentum aus Mittelmeerraum und Orient zu uns gekommen. Aber hier scheint es für einmal umgekehrt zu sein: "Weihnachten" oder die Zwölfnächte, das Dodekahemeron, sehen aus wie ein Exportprodukt des Westens in das östliche Christentum. Dodekahemeron ist ein so schöner griechischer Begriff, dass gerne implizit angenommen wird, es handle sich hier um ein Element der alten östlichen Liturgie. Erst wenn man den byzantinischen Quellen nachgeht, zeigt sich, wie stiefmütterlich diese angeblich so heilige Festzeit noch im Mittelalter behandelt wird. Bei Johannes Jejunator (starb 595) erscheint das Wort kommentarlos in einer Liste von Tagen, an denen nicht gefastet wird.
... καὶ τοῦ Προδρόμου, καὶ τὸ δωδεκαήμερον, καὶ τὴν ἑβδομάδα τοῦ Πάσχα, καὶ τὴν ἀπο τῆς Πεντηκοστῆς ... ὄυτω μὲν εἶναι εἰς αὐτὰς ὁλοαπολύτους εἰς πάντα (et in festa Joannis Baptistae, et dodecaemero, et Paschatis septimana, et quae Pentecosten sequitur ... opportet esse omnibus modis liberas) PG 88, 1913C
Dann finde ich es bis ins 9. oder 10. Jh. überhaupt nicht mehr (und frage mich daher, wie sicher seine Echtheit in der Liste von Jejunator wirklich ist).

Nicht nur die gallische (fränkische) Interpretation des Festkalenders, sondern auch die manifest heidnischen Eskapaden der Winternächte wirkten bis nach Byzanz: Konstantinos Porphyrogennetos beschreibt in seinen Zeremonien (c. 953) eine am Mittag des 2. Januar stattfindende "gotische Zeremonie" (τὸ Γοθικόν), wo Maskierte in Tierfellen in den Saal rennen und Lärm schlagen. Die "Goten" waren zur Zeit Konstantins bereits Waräger (Schweden), und ob der Brauch tatsächlich von Goten im 5. oder 6. Jh. oder aber erst von Schweden im 9. Jh. nach Byzanz kam, wissen wir nicht sicher (Meuli, "Masken"). Dass die dazugehörigen Rufe tul tul (τούλ τούλ)  mit dem Wort jul zu tun hätten, könnte ich hier suggestiv zitieren (Gunnell 74 fn. 201), aber die Idee klingt mir doch etwas sehr nach etymologischem Wunschdenken. Im aktuellen Zusammenhang bestätigt diese "gotische Zeremonie" einfach, dass, was immer am byzantinischen Hof im 10. Jh. an "Rauhnachts"-Bräuchen stattfand den germanischen (gotischen) Söldnern zugeschrieben wurde.