Samstag, 26. Dezember 2015

Vorbrand


  Wenn das ein Traum war — was war dann Wirklichkeit? Es war eine Begegnung in der Losnacht, ein Schicksalsgesicht. Er fühlte keine Furcht. Es war sehr kalt, aber zugleich siedend, wie flüssige Luft. Und nicht nur die Eltern, auch die Ahnen waren nahe in diesem Wallgraben. Heute war eine ihrer großen Nächte, ein Totenfest. Sie drängten aus dem hohlen Berg hervor.
  Der Horizont war hell geworden, der Umkreis flackerte. Es war eine große Unruhe. Waren es Wagen, Vieh und Pferde, was er im Flackern ahnte, waren es eiserne Maschinen oder Dinge ganz unbekannter Art? Der Wind pfiff über die weiten Ebenen. Die Brände leuchteten. Von ferne hörte man das Wolfsgeheul. Der Eiswind kam aus den Wolfsländern. Er klirrte am Grabenrand.
  Es herrschte die Verzweiflung, die auf Erden stets wiederkehrt. Die Erde war Staub, war Schauplatz des Untergangs und seiner Schrecken; sie lechzte nach Blutopfern. Die Rudel kamen näher und kreisten um die Wallburg; sie brachen hier und dort schon in den Graben ein. Die Flammen schlugen bis an das Gewölbe; Schlösser und Städte, Frucht und Kornland gingen in ihren Wirbeln auf. Die Lindenbäume an den Brunnen glühten, die Eichenhaine, in denen die Mistel der goldenen Sichel harrte, lohten als Fackeln in die Nacht.
  Und wieder hörte man, daß diese Wölfe nur Treiber waren; mit ihrem Heulen kündeten sie den grauen Stammherrn, der sichtbar wurde hinter seinen Meuten, so wie das Schicksal sichtbar wurde im Flammenmeer. Die Ketten sprangen, die Wölfe wurden frei. Das war die Lohe, die man in solchen Nächten als Vorbrand schaute von Irland bis zum Nordweg und von den Schlössern Westfalens bis zu den Türmen, um deren Helme der Tiroler Adler kreist.

Ernst Jünger, Besuch auf Godenholm (1952)


Freitag, 17. Juli 2015

Europa

Europa ist zum Schimpfwort geworden, zum Kurznamen einer zynischen Elite, die im unerschüttlichen Habitus von manifest destiny an einer kafkaesken Dystopie bastelt. 

Ein guter Moment, sich in Erinnerung zu rufen, was "Europa" in Wirklichkeit heisst. Ich bin nicht der erste, der sich das fragt. 1959 konnte man in der Zeit lesen  Wer oder was Ist ein guter Europäer? Hier wurde der Begriff zurückverfolgt zu einem "europäischen Humanismus, der ja zu einem nicht kleinen Teil ein deutscher Humanismus war". Nun, damit geben wir uns hier nicht zufrieden. Humanismus? deutscher Humanismus? etwa Aufklärung? "too early to say".

Die Nationen Europas im Hochmittelalter: Sclavinia, Germania, Gallia, Roma, dargestellt als "nationale Allegorien" (unerschieden durch Haut- und Haarfarbe), die dem Kaiser (Otto III.) Tribut darbringen (Evangeliar Ottos III. aus Reichenau, c. 1000, Clm. 4453 fol. 23v).

Nein, die Rede ist hier allenfalls von was C. D. Burns das "zweite Europa" genannt hat: The first Europe: A study of the establishment of medieval Christendom, A.D. 400-800 erschien 1947 (fünf Jahre nach dem Tod des Verfassers). Das "erste Europa" nach Burns ist das lateinische Mittelalter, wie es sich während der Merowingerzeit aus der Spätantike herausbildete. Einen ähnlichen Ansatz (aber ohne die Numerierung) verfolgte schon Dawson, The Making of Europe (1932). Burns' Buch scheint direkt nicht stärker rezipiert worden zu sein, aber er wird aufgenommen, und bis zum Plagiarismus paraphrasiert, vom einflussreicheren Norman F. Cantor, Civilization of the Middle Ages (1963).

Es geht darum: Europa als Begriff für eine kulturelle Sphäre oder eine Zivilisation, ein Imperium Christianum, tritt erstmals bei karolingischen Gelehrten auf. Zuvor existierte Europa wohl als geographischer Begriff, aber niemals als kultureller, denn das römische Reich hatte mediterranen Charakter, und Europa war allenfalls der Begriff für das barbarische Hinterland im Norden und Nordwesten.

Die zehn grössten Städte im römischen Reich
Erst mit dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches im 5. und 6. Jh. begann ein Prozess, der in der Karolingischen Renaissance seinen Abschluss fand, und das "Erste Europa" des lateinischen (sogenannten) Mittelalters für die nächsten 500 Jahre definierte. Dieses "Erste Europa" zerfiel in den Krisen des Spätmittelalters und der Reformation. Daraus entstand fast nahtlos das "Zweite Europa" der Frühmoderne. Burns:
it should be clearly stated that medieval civilization is regarded here as only a first stage in the development of a pattern of culture, whose later forms were the second Europe of the sixteenth to nineteenth centuries, and the third Europe now being established.
 Das "Dritte Europa", das Burns aus den Ruinen des Ersten Weltkrieges sich abzuzeichnen sehen glaubte, war das Europa des Internationalismus, der kommunistischen Hoffnung auf die Überwindung der Nationalstaaten. Einen Zweiten Weltkrieg und sechzig Jahre "europäische Integration" später können wir Nachgeborenen nun vielleicht einschätzen, wie sich diese dritte Inkarnation "Europas" zu seinen beiden titanenhaften Schwestern verhält.


Wie gesagt wurde Burns Idee der Entstehung eines "First Europe" in der Merowingerzeit von Cantor (1963) ausgebaut und geradezu plagiiert. Dabei scheint aber im Detail auf Burns (ein britischer Universalgelehrter) mehr Verlass als auf Cantor (ein amerkanischer Geschichtsprofessor und Mediävist):

Burns verortet den Begriff Europa in der karolingischen Renaissance im 9. Jh. und gibt korrekt seine Verwendung durch Nithard wieder:
[the word Europe] was used in the new sense for the first time in the ninth century, for example, by Nithard the ninth-century historian, when he wrote that  Charles the Great at his death "had left all Europe in the greatest happiness." Europe is thus distinguished, not only from other lands, but from the tradition of the Greek-speaking Churches and Empire, and from Islam. From that time Europe was "the West" not merely a different place but a different spirit. 
Nithart schreibt genau das in seinen Historiae (843):
Karolus bonae memoriae, et merito Magnus, imperator ab universis nationibus vocatus, hora videlicet plus minus diei tertia, in senectute bona decedens, omnem Europam omni bonitate repletam reliquit. 
Cantor (S. 181) überhöhte diese Beobachtung zu:
The letters of Alcuin in particular are full of references to the "Christian Empire" and to "Europa", the area contiguous with Latin Christianity whose leader was Charlemagne.
In den von Migne edierten Briefen Alcuins finde ich den Begriff Europa allenfalls zweimal lose im Sinn "im europäischen Teil des Reiches" verwendet. So gerne ich die Begründung von Europa schon beim grossen Ealhwine von York  vorgefunden hätte, Cantor hat da übertrieben.

Die Einsicht von Dawson bzw. Burns, dass "Europa" in der Merowingerzeit entstand, nämlich durch die Herausbildung der lateinischen Christenheit als eine Art glückliche Synthese zwischen gallo-römischer und germanischer Kultur, ist bestimmt sehr wichtig. Und es ist dabei von einigem Interesse, welche Elemente dabei germanisch und welche gallo-römisch gewesen sein mochten, und welche Charakteristika allenfalls neu entstanden. Doch dass die Verwendung von Europa in diesem Sinn auf die Karolinger zurückgehe ist wohl doch etwas zu weit gegriffen. Europa als kulturelle Sphäre besteht wohl seit dem Frankenreich. Europa als Begriff gehört dagegen wohl in das 16. Jh., und damit tatsächlich zum deutschen Humanismus.


Europa in forma virginis ist jedenfalls ein teutsches Motiv aus dem 16. Jh., angeblich motiviert durch das habsburgische Riesenreich unter Karl V. und in der Gestalt ev. sogar der Kaiserin Isabella von Portugal nachempfunden (hier: Sebastian Münster 1570).

Burns verweist korrekt darauf, dass Europa in der Karolingerzeit in einem gewissen Kontext als "das Frankenreich" oder "die westliche Christenheit" verwendet werden konnte. Bei weitem häufiger bleibt in dieser Zeit die Verwendung von Europa als streng geographischer Begriff. Die mittelalterlichen Schreiber verstehen den Rückhalt ihrer Kultur auch innerhalb des europäischen "Viertels" der bekannten Welt durchaus als prekär: einerseits sind die europäischen Randgebiete barbarisch geblieben oder höchstens dem Namen nach christianisiert, andererseits sind grosse Teile Europas bereits dem Islam anheim gefallen oder werden direkt durch ihn bedroht. Diese durchaus realistische Einschätzung liest man etwa bei William von Malmesbury (Gesta regum Anglorum, 1125), in der Rede von Papst Urban, die zu den Kreuzzügen aufruft:

Die Feinde Gottes haben schon längst (proh! welche Schmach der Christen!) Syrien, Armenien, ganz Kleinasien (mit seinen Provinzen Bithynien, Phrygien, Galatien, Lydien, Karien, Pamphylien, Isaurien, Lykien und Kilikien) besetzt. Und nun fallen sie noch in Illyrien und den näher gelegenen Ländern ein. [...] Sie bewohnen Asien, einen Drittel der Welt, als ihren ererbten Sitz. [...] Afrika, den zweiten Erdteil,  besitzen sie schon seit zweihundert Jahren durch ihre Waffengewalt. [...] Als dritter Teil bleibt Europa, und wie wenig davon bewohnen wir Christen? Denn wer würde all die Barbaren,  die auf abgelegenen Inseln im gefrorenen Ozean wie Tiere leben, als Christen bezeichnen? Und sogar dieses von uns bewohnte Stückchen der Welt bedrängen die Türken und Sarazenen: Schon seit dreihundert Jahren sind Hispanien und die Balearischen Inseln unterworfen, und auch den Rest hoffen sie bald zu verschlingen.
Illi enim [viz. inimici Dei] iam pridem (proh! quantus Christianorum pudor!) Syriam, Armeniam, omnem postremo Asiam Minorem (cuius provinciae sunt Bithinia, Phrygia, Galatia, Lidia, Caria, Pamphilia, Isauria, Licia, Cilicia), occupaverunt; nunc Illiricum et omnes inferiores terras insolenter inequitant [...] Illi Asiam, tertiam mundi partem, ut haereditarium nidum inhabitant; [...] Illi Affricam, alteram orbis partem, ducentis iam annis et eo amplius armis possessam tenent;[...] Tertium mundi clima restat Europa, cuius quantulam partem inhabitamus Christiani? nam omnem illam barbariem quae in remotis insulis glacialem frequentat oceanum, quia more belluino victitat, Christianam quis dixerit? Hanc igitur nostri mundi portiunculam Turci et Saraceni bello premunt; iamque a trecentis annis Hispania et Balearibus insulis subiugatis, quod reliquum est spe devorant 
Und das ist es wohl endlich, was Europa definiert: Der Abwehrkampf gegen den übermächtigen Islam, der zwei Drittel des römischen Reichs, und dazu noch das Perserreich, verschlungen hatte. Europa entstand, weil das westliche Reich von der mediterranen Kultur abgeschnitten wurde: im 7. Jh., durch die arabische Invasion. Isoliert von den ehemaligen Zentren der Zivilisation entstand etwas Neues, die germanischen Königreiche, die seit Jahrhunderten mit Rom in Kontakt standen und seit längerem (Goten) oder kürzerem (Franken) auch das Christentum angenommen hatten rückten plötzlich ins Zentrum, waren auf sich selber angewiesen, und nicht mehr ferne Peripherie der grossen Zentren am Mittelmeer. Diese Erkenntnis, lange dadurch verschleiert, dass das römische Reich sehr wohl seit dem 3. Jh. durch Germaneneinfälle, und dann erst recht durch den Krieg gegen die Sassaniden im 6. Jh. geschwächt war; ohne diese Konstellation hätte es nie eine islamische Expansion gegeben. Dass aber der kulturelle Schnitt, der die Spätantike vom Frühmittelalter trennt, in der islamischen Expansion bestand, war die Einsicht von Henri Pirenne (Mahomet et Charlemagne, postum 1937). Pirennes These wurde für etwa 20 Jahre kontrovers diskutiert, und bestimmt in einigen Punkten relativiert oder revidiert (The Pirenne Thesis. Analysis, Criticism And Revision, ed. Havighurst 1958), aber seit den 1960ern(?), oder spätestens seit der Islam unter die Fittiche der P.C. genommen wurde, scheint sie von der Historikerzunft doch eher vohrnehm verschwiegen worden zu sein.

Der oben zitierte Text von William von Malmesbury lässt keinen Zweifel daran, dass die Kreuzzüge als verzweifelter Abwehrkampf gegen einen übermächtigen und aggressiven Gegner verstanden wurden, und zeigt auch das Bewusstsein des historischen Kontexts der islamischen Eroberungen; nichts könnte weiter danebenliegen als die gängige Darstellung der Kreuzzüge als ungestüme víking einiger übermütiger Franken und Normannen (dass hundert Jahre später, nach einschlägigen Erfolgen, der "vierte Kreuzzug" viel eher ein solches Bild abgab, steht auf einem anderen Blatt, und wenig später musste das "Projekt Kreuzzüge" dann auch scheitern, nicht aber ohne zuvor ein wertvolles Jahrhundert Atempause gewonnen zu haben).

Der unermüdliche G. K. Chesterton schreibt hierzu (The Everlasting Man, 1925):
It [viz. the Mediterranean] was the scene of an endless struggle between Asia and Europe from the night of the Persian ships at Salamis to the flight of the Turkish ships at Lepanto.
Das "Erste Europa" entstand als wehrhafter Überrest des römischen Reiches, der die islamische Eroberung überlebt hatte. Das "Zweite" Europa entstand, als die Übermacht des Islam gebannt war, und die neuen europäischen Grossreiche frei wurden, die Neue Welt zu erobern und sich mit internen religigiösen Querelen zu beschäftigen; nur das Habsburgerreich musste im Balkan weiter Türkenkriege führen,

The cold queen of England is looking in the glass;
The shadow of the Valois is yawning at the Mass;
From evening isles fantastical rings faint the Spanish gun,
And the Lord upon the Golden Horn is laughing in the sun.
Unsere Liebe Frau vom Siege in der Schlacht von Lepanto (Tony Stafki 2009)


Und wie endete das "zweite Europa"? Österreichs Türkenkriege dauerten bis 1791 (in Frankreich wehte schon die Trikolore). Es folgte eine merkwürdige Zeit, während der die eigentlich geschlagenen Osmanen als geostrategisches Pfand gegen Russland diente. Hastig riss man sich noch diese oder jene afrikanische oder südostasiatische Kolonie unter den Nagel. Und dann, 1914, war Feierabend. Das "dritte Europa", auf das wir seit hundert Jahren hoffen, kam nicht, oder nur in alptraumhafter Verkehrung in ein Anti-Europa.

...


Die Einteilung der Welt in drei Erdteile, Asia, Libya und Europa, übernimmt die mittelalterliche Schriftlichkeit von Isidor (c. 630). Isidor übernimmt sie letztlich von Herodot (via Ptolemäus), aber seine Beschreibung ist angereichert durch Länder und Völker, die erst in der Spätantike geschichtlich wurden.
Grob gesagt teilt Isidor Europa in folgende Länder ein: Scythia inferior, das nähere oder kleinere Skythien, gelegen zwischen Don und Donau. Bestandteile davon sind Alania, Dacia und Gothia. Westlich von Scythia inferior (oder als sein westlichster Teil), zwischen Rhein und Donau, liegt Germania, westlich des Rheins Gallia, südlich der Pyrenäen Hispania und südlich der Alpen Italia. Entlang des rechten Donauufers liegen die Provinzen Raetia, Noricum, Pannonia, Istria, Moesia und Thracia. Graecia schliesslich liegt südlich von Thracia, scheint aber auch den Westbalkan einzuschliessen (und wird mit Illyricum gleichgesetzt), mit seinen Provinzen  Dalmatia, Epirus, Hellas, Thessalia, Macedonia, Achaia, nebst den Inseln, Creta et Cyclades. Britannia wird bei Isidor im separaten Kapitel de Insulis geführt. Darin folgt ihm noch Beda,
"Britannia ist eine Insel im Ozean, die früher den Namen Albion trug, gelegen zwischen Norden und Westen, gegenüber von Germania, Gallia und Hispania, den grössten Teilen von Europa, wenn auch in grosser Entfernung."
Brittania Oceani insula, cui quondam Albion nomen fuit, inter Septentrionem et Occidentem locata est, Germaniae, Galliae, Hispaniae, maximis Europae partibus multo intervallo adversa.
aber im 12. Jh. wird das normannische England dann zu Europa gezählt.


Isidors Europa: stimmt noch erstaunlich gut mit dem überein, was wir umgangssprachlich mit "Europa" assoziieren. Die Ausdehnung des "Kontinents" an den Ural war eine Definition des 19. Jh., die sich im tatsächlichen Sprachgebrauch nie recht niederschlug.

Herodot (4.45) übernahm den Begriff Europa von seinen Vorgängern, den Geographen des 6. Jh. v. Chr. Es ist hier der von den Griechen bewohnte Erdteil westlich des Perserreichs, abgegrenzt von Asien entweder durch den Fluss Phasis in der Colchis (Kaukasus), oder den Fluss Tanais (Don) und den kimmerischen Bosporus (Strasse von Kertsch).

Herodot fragt sich auch ausdrücklich, wieso die drei Erdteile, Asia, Libya, Europa, Frauennamen tragen, und ob Europa wohl nach der phönizischen Prinzessin benannt sei, die aber doch gar nie europäischen Boden betreten habe, da sie von Griechen (mutmasslichen Kretern) von Tyros nach Kreta und dann nach Lykien verschleppt worden sei (1.2):
μετὰ δὲ ταῦτα Ἑλλήνων τινάς (οὐ γὰρ ἔχουσι τοὔνομα ἀπηγήσασθαι) φασὶ τῆς Φοινίκης ἐς Τύρον προσσχόντας ἁρπάσαι τοῦ βασιλέος τὴν θυγατέρα Εὐρώπην. εἴησαν δ᾽ ἄν οὗτοι Κρῆτες.
"Dann, sagen sie (die Perser), seien einige Griechen (sie können sie nicht näher benennen) in Tyros in Phönizien gelandet und hätten die Tochter des Königs, Europa, entführt. Es waren wohl Kreter."
Der alte geographische Begriff Europa geht mindestens auf das 7. Jh. v. Chr. zurück. Im homerischen Apollo-Hymnus erscheint Europa zuerst als Ländername: Apollo, als er seinen Tempel in Delphi zu errichten beschliesst, sagt voraus, dass die Menschen sowohl vom Peloppones, als auch von Europa und von den Inseln hier opfern würden. Europa ist hier also das von Griechen bewohnte Festland nördlich des Peloppones (247-243):
Τελφοῦσ᾽, ἐνθάδε δὴ φρονέω περικαλλέα νηὸν /  ἀνθρώπων τεῦξαι χρηστήριον, οἵτε μοι αἰεὶ / ἐνθάδ᾽ ἀγινήσουσι τεληέσσας ἑκατόμβας, / ἠμὲν ὅσοι Πελοπόννησον πίειραν ἔχουσιν / ἠδ᾽ ὅσοι Εὐρώπην τε καὶ ἀμφιρύτας κατὰ νήσους, / χρησόμενοι: τοῖσιν δέ κ᾽ ἐγὼ νημερτέα βουλὴν πᾶσι θεμιστεύοιμι χρέων ἐνὶ πίονι νηῷ. ’
"Telphusa, hier habe ich im Sinn einen überaus schönen Tempel zu bereiten, ein Orakel für die Menschen, die hierhin für immer vollständige Hundertopfer führen werden, sowohl die vom saftigen Peloponnes, als auch die von Europa, und ebenso die von den umströmten Inseln, für den Orakelspruch. Ihnen allen will ich unfehlbar Recht sprechen im fetten (reichen, gesalbten) Tempel."
Europa als Frauengestalt, die spätere "phönizische Prinzessin", ist bei Hesiod noch eine Nymphe, eine der vielen Töchter des Okeanos und der Thetys, die offenbar über einzelne Länder oder Flüsse regieren (Theogonie 346-361; dt. Voß):
τίκτε δὲ θυγατέρων ἱερὸν γένος, αἳ κατὰ γαῖαν /  ἄνδρας κουρίζουσι σὺν Ἀπόλλωνι ἄνακτι "Töchter gebar sie darauf, hochheilige, welche des Erdreichs /  Männer zur Reif aufnähren, sie selbst und der Herscher Apollon [...]"
Ihr Name (εὐρύ-ὤπ-, idg. etwa idg. *uru-hōkʷā) "die mit dem breiten Gesicht" verweist auf älteste indogermanische Namen für die Erde selbst; Sanskrit wäre derselbe Name *urvīkā, belegt ist urvī "die Breite" und urūcī́, etwa "die breit Gebogene". Parallel dazu ist  die Benennung der Erde als "die Breite" mit der Wurzel von platt, Sanskrit pṛthivī und griech. Πλάταια (Plataea), letzteres wie Europa ein Name für das griechische Festland bzw. Böotien.

Die Wandlung einer lokalen wichtigen Gottheit in eine universelle aber unwichtige ist ein wohlbekannter "mythologischer" Prozess. Dazu noch einmal Chesterton,
even polytheism seems often the combination of several monotheisms. A god will gain only a minor seat on Mount Olympus, when he had owned earth and heaven and all the stars while he lived in his own little valley. Like many a small nation melting into a great empire, he gives up local universailty only to come under universal limitation [...] so with the Great Mother whom we still call Mother Earth. Demeter and Ceres and Cybele often seem to be almost capable of taking over the whole business of godhood, so that men should need no other gods.

Europa (wie Plataea) war also letztlich ein Name für das Land, bzw. das von uns bewohnte, unser weites Land, die breite, nährende Erde,
χαῖρε, θεῶν μήτηρ, ἄλοχ᾽ Οὐρανοῦ ἀστερόεντος,
πρόφρων δ᾽ ἀντ᾽ ᾠδῆς βίοτον θυμήρε᾽ ὄπαζε:
αὐτὰρ ἐγὼ καὶ σεῖο καὶ ἄλλης μνήσομ᾽ ἀοιδῆς.
"Allegra, Mutter der Götter, Gattin des gestirnten Himmels / für mein Lied gewähre mir gütig selige Labung /  An dich will ich denken, und an ein neues Lied." (hom. Hymn. Εἲς Γῆν)


Dienstag, 7. Juli 2015

Minnetrinken

 
Noch wird in der Schweiz der 26. Dezember, der Tag des heiligen Märtyrers Stephanus, mit einer kirchlichen Weinspende begangen, wobei dem Meßpriester vorgeschrieben ist, den Wein kelchweise den Versammelten mit den Worten darzureichen: "Bibe fortitudinem St. Stephani."
R. Schultze, "Das Minnetrinken", Geschichte des Weins und der Trinkgelage (1867).

Am zweiten Tage nach Weihnachten, als am Feste Johannis des Evangelisten, wird auf katholischen Dörfern der Johanniswein in der Messe verabreicht. Es geschieht dies zufolge der vom heiligen Augustin herrührenden Angabe, Johannes habe einen Becher voll Gift, nachdem er ihn mit dem Kreuzzeichen gesegnet, schadlos ausgetrunken. Daher führt dieser Heilige in den kirchlichen Abbildungen einen Kelch, aus dem ein Schlänglein herauszüngelt, und der Meßpriester spricht bei der Benediction des Weines: Dich rufen wir an, vor dessen Namen die Schlange weicht, der Drache flieht, die Viper schläft und die Giftkröte in ihrer Wuth hinstirbt (Vgl. Agenda eccles. Moguntiensis 1551). Aus jedem Fasse im Keller läßt der Hausvater etwas Wein ab, und bringt es heute auf den Altar, läßt es mit Weihbrunn besprengen und leert es daheim wieder in die Fässer um; dann wird ihm das kein einziges Faß abstehn und aus jedem kann er seinem scheidenden Gaste den Johanniswein kredenzen.  Letzterer Brauch hat besonders im Kanton Schwyz und Oberwallis angedauert. Hatte man bereits Abschied genommen und verließ mit dem Frühesten die Herberge, so kam uns der Wirth draußen noch einmal mit dem letzten Scheidetrunk entgegen. In ein von seiner Tochter dargehaltenes Baßglas schüttete er aus zwei Flaschen rothen und weißen Walliserwein zugleich, und erst wenn es der Gast bis auf die Neige geleert hatte, konnte der gegenseitige Wunsch einer glücklichen Reise in Erfüllung gehen. Der kirchliche Segen bedingt dies; quisquis in peregrinatione fuerit, ab eodem vino confortetur. (Friz[, Manuale Selectiss. Benêdictionum. Kempten 1737] S. 16.) In unsern katholischen Landkirchen spendet der Pfarrer nach der Messe einige Kannen aus und jeder Anwesende soll einen guten Trunk thun. Weil sich aber die schlauen Jungen dabei wiederholt vorzudrängen wissen und sogar die Kleider vor der Thüre gegenseitig umwechseln, um unerkannt noch einmal an die Kanne zu kommen, so bleiben unsre Männer jetzt bereits aus der Reihe weg und der Brauch des Minnetrinkens geht seinem Ende entgegen.
E. L. Rochholz, "Weihnachten und Neujahr in der Schweiz", Die Grenzboten, Vol. 23 (1864), 496–510.

Adelung: Das Paßglasein hohes Trinkglas, welches durch verschiedene Pässe, d. i. Reife oder Ringe am Rande, in mehrere Räume getheilet ist, und auch nur ein Paß schlechthin genannt wird.

Éowyn came forward bearing wine. "Ferthu Théoden hál!" she said. "Receive now this cup and drink in happy hour. Health be with thee at thy going and coming!" Théoden drank from the cup, and she then proffered it to the guests. (Anke Eißmann 2002)