Mittwoch, 16. März 2016

Homo migrans II

Wir müssen über "Migration" reden. Längst ist es nicht mehr Liebhaberei oder Expertenwissen, informiert zu sein, was das ist bzw. nicht ist.

In Teil 1 habe ich versucht, die Faktenlage in Europa übersichtsweise darzustellen: Sprachwandel findet auf verschiedene Weise statt, hat aber immer mit Migration zu tun, sei es durch Vertreibung, oder Vernichtung, oder aber durch langsamem demographischem Wandel und allmählicher Assimilation verschiedener Gruppen.

Es wird klar, dass in Europa grosse Unterschiede darin bestehen, wie lange die jeweils vorherrschende Sprache bereits vor Ort gesprochen wurde. Dabei empfinden sich Bevölkerungen als autochthon, die deutlich mehr als 500 Jahre einheimisch waren: Ein Engländer in Kent und ein Grieche in Kreta verstehen sich als Mitglied von Völkern, die gleichermassen seit "urdenklichen Zeiten" lokal ansässig waren, auch wenn es beim Engländer 1500 Jahre und beim Griechen 3500 Jahre sind: "urdenklich" heisst nämlich "seit mehr als 500 Jahren".

Denn im Gegensatz dazu empfinden Bevölkerungen, die seit weniger als 500 Jahren ansässig sind, sich durchaus als Nachkommen einer Wanderung: Ein Engländer in Belfast genausogut wie ein Amerikaner in Neuengland, ein Türke in Istanbul und ein Russe in Jalta wissen, dass sie zuvor ansässige Völker, die meist als Minderheit weiter vorhanden bleiben, verdrängt haben. Die Erinnerung an die eigene Wanderung und die vorgefundenen Einheimischen bleibt lebendig, in Lehnwörtern und Ortsnamen, Landnahme-Sagen, usw.

Dies deutet auf eine "Kohärenzlänge" in der natürlichen, anthropologischen Entwicklung von Völkern und Stämmen, die im Bereich von etwa 300 bis 500 Jahren, oder grob gesagt zehn bis zwanzig Generationen, liegt. Dies ist eine natürliche Grenze der mündlichen Überlieferung die man immer wieder antrifft. 500 Jahre ist dabei die weit entfernte, graue Vorzeit, die längste Dauer, nach der historische Ereignisse noch halbwegs identifizierbar bleiben (etwa Homers Erzählung des trojanischen Kriegs); länger Zurückliegendes nimmt dagegen zunehmend den Anstrich allgemeiner kosmologischer Mythen an, die ihren historischen Gehalt verlieren.

Legendäre Gründer liegen jeweils ungefähr so weit in der Vergangenheit, sei es Romulus in der Erzählung von Quintus Fabius Pictor  (750...250 v. Chr.) oder Moses in der ältesten biblischen Überlieferung (1200...700 v. Chr.) oder Karl der Grosse in mittelalterlicher Legende (800...1200, die Sage vom schlafenden Barbarossa (starb 1190) dagegen wie bestellt erstmals um 1680). Figuren, die viel älter sind, verlieren ihren Bezug zur eigenen Geschichte und werden mythologische Helden oder Götter (Deukalion, Abraham/Noah, Herkules, ...).

Die genealogische Erinnerung an die eigenen, persönlichen Vorfahren ist wesentlich kürzer. Genauer gesagt: etwa viermal kürzer, sie reicht von etwa zwei bis fünf Generationen. Zwei Generationen sind die eigenen Grosseltern, von denen die meisten Menschen mindestens durch Erzählungen einen individuellen Eindruck haben. Fünf Generationen entspräche den "32 Anichen", d.i. den Ur-ur-urgrosseltern. Kaum jemand, der nicht aus einer adligen (oder allenfalls rabbinischen) Ehe stammt, kann seine 32 Anichen benennen. Generation 6, die "64 Uranichen", kennt vielleicht gerade noch der Hochadel, die 128 Vorfahren aus Generation 7 nicht einmal eine Königin Elisabeth.

Unsere eigenen Gründerfiguren der grauen Vorzeit, sofern wir unsere Identität aus unserer Umgebung und nicht aus Archiven konstruieren, hätten damit in der Reformationszeit gelebt, mit ihrem Personal aus Reformatoren, Wiedertäufern, Jesuiten, Pappenheimern, ... Und tatsächlich sind es die Ereignisse aus Reformation und Frühmoderne, die unsere regionale Identitäten und unsere Landkarten prägen (oder prägten, bis zumindest die Urbanen unter uns seit etwa den 1980ern in Subkulturen fragmentierten und nun glauben, dass wir unsere Identität jederzeit komplett neu designen können, dürfen und sollen).

Tell und Winkelried dagegen wären  (nach unserer "500-Jahre-Regel") die "Gründerväter" für das 19. Jh. -- und tatsächlich waren sie dies auch! Wenn also heute eine Geschichtslehrerin die Gründungszeit mit Eidgenossen als "Nationalmythos" abtut, hat das vielleicht weniger damit zu tun, dass sie ach-so kritisch-aufgeklärt sozialisiert wurde, als dass die alten Eidgenossen inzwischen aus dem natürlichen 20-Generationen-Fenster rausgerutscht sind und ganz "anthropologisch korrekt" nicht mehr als geschichtliche Überlieferung wahrgenommen werden (obwohl sie das natürlich sind, aber eben historische geschichtliche Überlieferung, d.h. wirksam für die Generation um 1800 und nicht um 2000).

Diese Einsichten möchte ich im Folgenden verwenden, um Aussagen im Stil von "Niemand war schon immer da" (Schweizerisches Landesmuseum), "ein einzig Volk von Immigranten" (Orell Füssli 2000), gerne und oft als Überschrift von Auseinandersetzungen mit Migrationsgeschichte eingesetzt, kritisch zu würdigen.






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